Montag, 30. Mai 2016

Wolliger Schnellball


Wolliger Schneeball
Viburnum lantana

Eduard und Ottilie wagten nicht, bei diesen Worten einander anzusehen, ob sie gleich nahe gegen einander über standen.
Die Wahlverwandtschaften. Goethe. 1809
Fell und Leder gegen die Kälte, ein Grasumhang gegen den Regen, ein Rucksack mit Proviant, Zunderschwamm zum Feuermachen, ein Dolch aus Feuerstein, eine Axt aus Kupfer – an der Ausrüstung lag es nicht, dass der Mann auf über 3000 m Meereshöhe zu Tode kam. Die Waffen waren das Problem: Der Bogen aus Eibenholz war nicht fertig geschnitzt, von den zwölf Pfeilen im Köcher waren erst zwei mit Pfeilspitze und Federn versehen. Als sein Mörder kam, war Ötzi unbewaffnet.

Achtzehn verschiedene Hölzer waren in seinen Habseligkeiten verarbeitet, darunter Lärche, Haselnuss, Hartriegel, Linde und Birke. Ihre differenzierte Verwendung zeugt vom Erfahrungswissen des Mannes vom Hauslabjoch, von der intimen Kenntnis seiner Umwelt, dem souveränen Umgang mit den Materialien. Für den Bogen hatte er Eibe verwendet, für die Pfeilschäfte unsere Pflanze des Monats, den Wolligen Schneeballs.

Aus Wolligem Schneeball: Ötzis Pfeile


Der Wollige Schneeball bildet vom Boden weg sehr viele Schößlinge. Mit zwei oder drei Jahren haben  diese Stämmchen den richtigen Durchmesser für Pfeile; das Holz ist sehr zäh und elastisch, dabei formstabil und reißfest. Nach 5000 Jahren sind Schneeball und Eibe in der Bogenbauerszene noch genauso aktuell wie damals. Natürlich waren auch die furchtbarsten Waffen des Mittelalters, die englischen Langbögen, aus Eibe geschnitzt.

Weißblühende Sträucher können bei botanischen Laien Verwirrung stiften – zu viele sind es und zu ähnlich sehen sie sich. Deshalb versprach ich der werten Leserschaft, jedes Jahr im Frühling einen davon vorzustellen. Vor dem Wolligen Schneeball waren schon Traubenkirsche (Mai 2015) und Weißdorn (Mai 2012) dran.

Der Wollige Schneeball wächst gerne an Waldrändern, denn schön sonnig muss er es haben. Auch beim Boden gibt er sich preziös; der soll recht fett sein, mit genügend Lehm und Kalk.
...schön sonnig muss er es haben
„Wollig“ ist beim Wolligen Schneeball die Unterseite seiner eiförmigen Blätter, die am Zweig „gegen einander über“ stehen, wie Goethe es elegant formulierte. Botaniker nennen eine solche Anordnung „gegenständig“. In den Wahlverwandtschaften war es von "gegen einander über" zu "durcheinander" ein kurzer Weg, doch ist das ein anderes Thema.
Wollige Unterseite.....
 
....gegenständiger Blätter


Die Knospen weisen eine Besonderheit auf. Sie sind nicht, wie bei den meisten Sträuchern, von Knospenschuppen umgeben, sondern von nicht fertig ausgebildeten Laubblättern, die im folgenden Frühjahr auswachsen.

Seltsame Knospe....
Sehr auffällig – nicht nur für Menschenaugen, sondern auch für bestäubende Insekten, sind die Blütenstände, sogenannte Schirmrispen. Was das ist? Na, das:
Schirmrispe macht Schaublüte
Eine solche Rispe besteht aus sehr vielen Einzelblüten, die zusammengenommen Schaufunktion haben und Insekten effektiver anlocken als eine kleine Einzelblüte. So einer Funktion von Blütenständen sind wir bei Löwenzahn, Gänseblümchen oder Edelweiß schon begegnet.
Schön auffällig, diese Blütenrispen
Die Blüten duften stark, Bestäuber kommen gerne angeflogen. Mit der Verbreitung hapert es aber: Vögel nehmen die Beeren nur, wenn sie gar nichts anderes mehr finden. Spät im Winter hängen die Beeren oft noch an den Zweigen. Wahrscheinlich schmecken sie den Vögeln nicht, sind zu bitter. Einen Trick hat der Wollige Schneeball aber: Die Beeren reifen nicht alle auf einmal, sodass reife schwarze neben unreifen roten und grünen stehen. Dieses Farbenterzett sollte einer Drossel oder einem Star schon einmal gefallen.

Farbenterzett der Beeren lockt Vögel an
Der andere Schneeball unserer Breiten, der Gewöhnliche Schneeball (Viburnum opulus) umgibt seinen Blütenstand mit großen sterilen Schaublüten. Die ziehen alle Blicke auf sich, wie man an sich selbst auf Streifzügen in Wald und Flur feststellen kann. Auf die Spitze treibt diese ästhetische Maßlosigkeit die Gartenform des Gewöhnlichen Schneeballs. Sie weist nur noch noch sterile Blüten auf.

Nur gut zum Angeben: die sterilen Schaublüten des Gemeinen Schneeballs
Hier ist alles steril: Gartenform des Gemeinen Schneeballs
Die beiden Schneebälle kann man auch leicht an den Blättern unterscheiden – die des Gewöhnlichen erinnern an kleine Ahornblätter. Und auch sie stehen „gegen einander über“.

gegen einander über





Fotos:
Angelika Schneider
Südtiroler Archäologiemuseum 1. v. oben
Tigerente 8. v. oben

 

 

 

 

 

 


 

 

Samstag, 30. April 2016

Hohler Lerchensporn

 
Hohler Lerchensporn
Corydalis cava
 
 
Heute widmen wir uns einer Pflanze, die nach der Zehe eines Vogels benannt ist – schon schräg, oder? Viele Menschen kennen diesen Vogel nicht mehr, und seine Zehen schon gar nicht. Dabei hatte die Lerche einen Stammplatz bei Dichtern und Musikern. "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche": Aber dass ausgerechnet ein Engländer auf die Idee kommt, jemand könnte diese beiden Gesänge verwechseln! Franz Schubert und sein Textdichter Wilhelm Müller hörten genau hin: "Die Lerche wirbelt in der Luft..". Hier der Beweis:

 
Hohle Knolle, gespornte Blüte, viele kleine Samen

 

In manchen Jahren, so wie heuer, ist vom Frühling nicht viel zu spüren. Doch Frühblüher müssen trotzdem raus, sie müssen geblüht haben und Samen gebildet, bevor Sträucher und Bäume Blätter bilden und den Boden beschatten. Veilchen, Buschwindröschen und Leberblümchen sind solche Frühblüher, genauso wie unsere Pflanze des Monats, der  wenig bekannte Hohle Lerchensporn.
 
Frühblüher müssen früh raus: Weißer und lila Lerchensporn
 
Der Lerchensporn ist die verlängerte hintere Zehe einer Feldlerche. Wie aber kam dieser Körperteil eines Vogels so sehr ins Bewusstsein der Menschen, dass er sogar als Namengeber für eine Frühlingspflanze diente, die ihrerseits genau bekannt war?  

Sorgenkind der Naturschützer mit Zehensporn
 

Die Feldlerche kam in der alten traditionellen Feldflur in Massen vor. Ältere Leute (also wir..) erinnern sich an die jubilierenden Rufe der hoch in den Himmel steigenden Flugkünstlerin, mit denen sie näher kommende Feinde, Füchse oder Marder, von ihrem Bodengelege ablenkt. Die Stimme der Lerche ist die lauteste Vogelstimme in Europa. Die Lerche ist eigentlich ein Steppenvogel, der in niedriger, schütterer Vegetation brütet. In der Feldflur des Mittelalters und frühen Neuzeit, in aufgelockerten Kornfeldern, nährstoffarmen Wiesen und Weiden fand sie (wie viele andere Bodenbrüter auch) äußerst komfortable Sekundärlebensräume. Die heutige intensive Landwirtschaft, die Maisäcker und Odelwiesen, lassen keinen Platz für die Nester der Feldlerche, die häufige Mahd keine Zeit zum Brüten. Auch zum Fressen findet die Lerche nichts mehr; die vielen Pestizide vernichten ihre Nahrung, die Insekten. Heute ist der einstige Allerweltsvogel Feldlerche zum Sorgenkind der Naturschützer geworden.

Feldlerche im Speckmantel – einen solchen Leckerbissen ließen sich Menschen, die oft genug nichts zum Essen hatten, nicht entgehen (...und meist hatten sie keinen Speck zum Würzen). Zu Abermillionen wurden Lerchen (und andere Vögel) in Europa gefangen und gegessen – mit Netzen, Leimruten und auf „Vogelherden“ – Plätzen, auf denen man in Schlagfallen Vögel fing.  Viele Menschen hielten also Feldlerchen in Händen, wussten was ein Lerchensporn war. In Südeuropa werden Feldlerchen heute noch gefangen, was zu erbitterten Kontroversen mit Vogelschützern führt.

Sicherung des Mittagessens am Vogelherd
Und wie kam unser Hohler Lerchensporn zu seinem Namen?  Der wissenschaftliche Gattungsname „Corydalis“ ist griechisch und bedeutet „Heidelerche“. Sie ist eine wärmeliebende Lerche, die vor allem in Südeuropa vorkommt. Und natürlich besitzt auch sie eine gespornte Hinterzehe.  Die Blüten des Hohlen Lerchsporns sind unregelmäßig geformt. Im namengebenden verlängerten Ende, dem „Sporn“, schlummert der Nektar, dessen Duft Bienen und Hummeln in rasende Begierde verfallen lässt. Doch vor die Belohnung hat Blumengöttin Flora den Schweiß gesetzt: Die angehenden Bestäuber müssen sich durch die eng zusammenstehenden Blütenblätter raufen, um ans hintere Ende zu gelangen. Dabei bleibt Pollen an ihrem Pelz hängen, mit dem sie dann die nächste Blüte bestäuben. Sie bringen selber auch Pollen von vorher besuchten Blüten mit.
 
In den Kapseln liegen viele kleine Samen
Die Blüten des Hohlen Lerchensporns sind weiß, lila oder violett; sie verblühen nach wenigen Tagen, nachdem sie in kleinen Kapseln sehr viele winzige Samen gebildet haben. Danach stirbt der gesamte oberirdische Teil der Pflanze mit Blättern und Stängel ab. Wie bei den meisten Frühblühern wandern Nährstoffe in unterirdische Speicherorgane – verdickte Spross- oder Wurzelteile. Beim Lerchensporn ist es ein hohler, verdickter Spross, also ein in den Untergrund gewanderter Teil des Stängels. Eine solche Pflanze ist ein Geophyth. Die Knolle ist innen hohl, manchmal mit Tochterknollen gefüllt. Der Artname „cava“, lat. „hohl“, stammt daher.
 
Das unterirdische Speicherorgan, die (hohle) Knolle
 
Manchen Hummeln ist das zu mühsam – sie beißen den Sporn von außen auf und schlecken den Nektar weg. Doch dadurch wird der Lerchensporn um seine Bestäubung gebracht. Ist der Lerchensporn dabei, durch Nektarräuber in eine evolutive Sackgasse zu geraten? Gemach! Die Blüten stehen dicht gedrängt in einer Traube – das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die eine oder andere ungebissen davonkommt. Die Traube hat auch Schaufunktion, mit der sie verschiedene Bestäuber anlockt. Da sind dann hoffentlich nicht nur Diebe dabei!
 

Hier hat ein Nektarraub stattgefunden: Hummelbiss am Sporn der Blüte

 
 

 

 

 
Bildnachweis (von oben nach unten):
Finavon
Walcoford
EnDumE
Tacuinum sanitatis Cod. Vind.
A.Schneider
Aelwyn
Fritz Geller-Grimm
 
 
 
 
 

Sonntag, 20. März 2016

Tulpen


Tulpen

Tulipa

....Tulpen vor Wien

Tulpen sind die ersten Schnittblumen der Saison. Die unweigerliche Assoziation dazu sind die neuzeitlichen bonbonfarbenen„Triumph“- Tulpen aus der holländischen Massenproduktion.
Seit Jahrhunderten sind die Niederlande mit der Tulpe verbunden. Dort züchtete man Hunderte verschiedener Sorten, dort löste der Tulpenwahn die erste Spekulationsblase der Geschichte aus, dort liegen die quietschbunten Tulpenfelder.
Die Tulpe ist ein Geschöpf des Orients – von persischen Gärten ausgehend wanderte sie aus in die Türkei und von dort nach Europa. Ogier Ghislain de Busbeqb, Österreichischer Gesandter des Kaisers bei Suleyman dem Prächtigen, brachte 1554 die ersten Tulpen nach Wien.
Wilde Tulpen wachsen in über 100 Arten vor allem in Südosteuropa und Nordafrika. Hotspots sind die Türkei, der Kaukasus, aber auch Afghanistan. Die Zuchttulpe wurde im Lauf von Jahrhunderten aus mehreren wilden Tulpen gewonnen.

Im botanischen Garten München kann man verschiedene frühblühende wilde Tulpen bewundern. Sie sind kleiner und zarter als Zuchttulpen; Betrachter reagieren entzückt.

Die wilde Felsentulpe, Tulipa saxatilis

Die einzige wilde Tulpe Mitteleuropas, die Waldtulpe (Tulipa sylvestris), wächst an warmen Standorten, zum Beispiel in Weinbergen oder Trockenrasen. Möglicherweise brachten sie die Römer mit oder sie kam aus Andalusien, wohin die Mauren sie aus Nordafrika eingeführt hatten.

Einzige wilde Tulpe Mitteleuropas: die Waldtulpe

Erst von Wien aus gelangte die Tulpe nach Holland. Carolus Clusius brachte Zwiebeln aus dem Kaiserlichen Botanischen Garten Wien nach Leiden. Die Tulpen weckten Begehrlichkeiten bei den Niederländern. Sie „säten“ sie in allen ihre 17 Provinzen aus. Doch ist die Vermehrung von Tulpen aus Samen schwierig: Tulpensamen treiben erst nach sieben Jahren aus und die Tochtertulpen ähneln den Eltern nicht. Bei Tulpen haben wir es, ähnlich wie beim Apfel, mit Heterogamie zu tun – einer riesigen, nicht vorhersehbaren genetischen Variabilität. Die Vermehrung der Zuchttulpen verläuft über Tochterzwiebeln, die sich unterirdisch an den Tulpenzwiebeln bilden. Trotzdem waren die wilden Tulpenmischungen, die sie in ihren Beeten hatten, der ganze Stolz der Holländer.  

Der Tulpen bitterer Duft

Im 17. Jahrhundert waren die Niederlande die reichste Nation Europas. Im Goldenen Zeitalter ab etwa 1630 kontrollierten sie die Hälfte des Welthandels über ihre Kolonien – beherrscht von den mächtigen Niederländischen Handelskompanien. Die größte unter ihnen, die Ostindisch-Niederländische Handelskompanie, ein Staat im Staate, baute vor allem in Java, Indonesien und Ceylon Gewürzmonopole auf Pfeffer und andere Gewürze auf. Die holländischen Händler und Reeder, die „Pfeffersäcke“ bauten sich ihre prächtigen Stadthäuser an den Grachten von Amsterdam. Sie zeigen ihren Reichtum ohne Scheu – nach der calvinistischen Prädestinationslehre war Reichtum auf Erden Anlass für Hoffnung auf das Paradies, ein Zeichen göttlicher Bevorzugung.
Ansonsten aber verbot das strenge calvinistische Überich alles, was nach Überflüssigem und Eitlem, nach Glamour und Bling-Bling aussah. Passte die Tulpe hier nicht gut dazu?
Zbignew Herbert schreibt in seinem Roman „Der Tulpen bitterer Duft“: „Die Tulpe lässt sich bewundern, sie weckt aber keine heftigen Gefühle“. Regelmäßige Drei- und Zweizähligkeit – sechs Blütenblätter, sechs Staubbeutel, dreizählige Narbe, dreiteiliger Fruchtknoten, zwei oder vier Blätter – nüchtern kommt die Tulpe daher, kühl, distanziert. Leidenschaft lässt sie nicht entstehen – sie fügte sich gut in die disziplinierte, verklemmte Welt des holländischen Calvinismus. Die alten Griechen hätten Tulpen (und den Calvinismus) der apollinischen Sphäre zugeschlagen – der Welt des Maßes, der Nüchterheit, der Ordnung.

Dionysos übernimmt die Macht

1634 aber übernahm Dionysos, der leidenschaftliche, verrückte, trunkene Gegenspieler Apollons das Zepter und ließ die Holländer für Jahre in eine Raserei verfallen, die viele von ihnen in den Ruin trieb und die als die erste Spekulationsblase in die Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte.
Lange Zeit hatten Tulpenliebhaber in den Niederlanden Zwiebeln nur getauscht. Die Reputation einer Blüte hing ab von ihrer Seltenheit und Schönheit. Begehrte Zwiebeln verschwanden auch gern aus den Gärten. So beklagte Clusius den Diebstahl von über 100 Zwiebeln aus seinem botanischen Garten in Leiden.

Aus einem Tulpenkatalog

Bizarr verlängerte, nadelspitz zulaufende Blütenblätter – sie standen symbolisch für den türkischen Dolch – waren besonders groß in Mode. Die Blüten waren geflammt, gestrichelt, gesprenkelt, gestreift. Nach Jahrzehnten der quietschbunten Tulpen sieht man bei uns auf den Märkten wieder manche solcher „gebrochenen“ Blüten. Das „Brechen“, die Musterung, ging auf eine Infektion der Zwiebel (und ihrer Tochterzwiebeln) mit dem Tulpenmosaikvirus zurück. Erst im 20. Jahrhundert kam man dem Virus auf die Schliche. In den 1630 Jahren wurden in den Niederlanden über 800 Tulpensorten in dicken Katalogen aufgelistet. Diese Mannigfaltigkeit ist heute verloren, Tulpensorten sind nicht leicht zu bewahren, besonders nicht gebrochene Sorten, deren Brutzwiebeln vom Virus geschwächt werden.
Die weiß-purpurne „Semper Augustus“(Immer erhaben) wurde 1634 zur größten Gefahr für die geistige Gesundheit der holländischen Tulpenzüchter. Ihre apollinische Kühle war kombiniert mit dem dionysisch emporzüngelnden, purpurfarbenen, eigenwilligen Muster, das fast über den Blütenrand hinaus schlug. Die Semper Augustus nun trieb die vernunftgeleiteten Calvinisten vollkommen in die orientalische Entgrenzung. Sie war die teuerste Tulpe der Welt: 10.000 Gulden für eine einzige Zwiebel zahlte man auf dem Höhepunkt der „Tulpenmanie“!

Nebenwirkung Massenwahn: die Semper Augustus

Schon vor den Dreißiger Jahren waren Tulpen nicht nur getauscht worden, sondern auch gehandelt. Ab 1630 begannen die Preise zu steigen, langsam zuerst, dann immer schneller. Bald handelte man mit Zwiebeln, die noch in der Erde waren. Die Bezahlung der Tulpenzwiebeln (oder auch nur von Anteilen davon) war bei der Ernte fällig, beim „Roden“ nach der Blüte. Heute würde man so etwas ein Termingeschäft nennen. Die Tulpen waren Spekulationsobjekte geworden –Spekulanten kauften sie nicht mehr zur Zucht und zum Auspflanzen, sondern spekulierten auf steigende Preise. Man hoffte, die gekauften Tulpen (oder die virtuellen, auf coopcedulle, Gutscheinen,vermerkten Anteile einer Zwiebel), zu einem noch höheren Preis zu verkaufen. Der Handel fand nicht an der Börse, sondern in Herbergen und Schänken statt. Die Manie hielt so lange an, als ein Verkäufer einen Käufer fand, der einen höheren Preis zu zahlen bereit war, weil er seinerseits hoffte, noch noch teurer verkaufen zu können.
Ein riskantes Geschäft – niemand wusste, wie die Zwiebeln bei der Ernte aussehen würden und zu welchem Preis man sie weiterverkaufen konnte. Doch die Preise stiegen und stiegen, die Spekulationsblase levitierte, Reiche und Arme verpfändeten ihr Hab und Gut, verfielen dem Massenwahn. Der Höhepunkt erfolgte Anfang 1637 – drei Zwiebeln einer Semper Augustus wurden für 30.000 Gulden verkauft. Ein Pracht-Stadthaus an der teuersten Grachtenlage in Amsterdam war für 10.000 Gulden zu haben.


Versteigerungszettel von Alkmaar
 
 
Am 5. Februar 1637 waren bei einer Versteigerung in Alkmaar 99 Posten Zwiebeln zu 90.000 Gulden verkauft worden. Doch schon zwei Tage vorher hatte ein Händler erstmals für einen verlangten Preis keinen Abnehmer mehr gefunden. Nun brachen die Preise in sich zusammen, innerhalb von Wochen fielen sie um 90 %. Nun merkten all die Händler, dass sie nicht ein Versprechen auf künftigen Wohlstand in der Hand hielten, sondern eine verderbliche, müffelnde Zwiebel. Der Müller, der seine Mühle für eine Tulpenzwiebel verpfändet hatte, war ruiniert, genauso wie der Pfeffersack aus Amsterdam, der Haus und Geschäft für eine Zwiebel eingetauscht hatte. So fühlte sich der Gastgeber, dessen Gast eine Tulpenzwiebel für Gemüse gehalten und aufgegessen hatte (1.500 Gulden), wahrscheinlich nicht mehr als der einzige Idiot im Lande.

So schnell kann's gehen: Preissturz 1637


 





 
 



Mittwoch, 17. Februar 2016

Adlerfarn


Jenny N. ist Engländerin, sie lebt in Österreich. Auf ihren Spaziergängen begleitet sie ihr Hund Bracken. Wie passend: Bracken gehört zur Landschaft Britanniens wie die Tannen zum Schwarzwald oder der Vesuv zu Neapel.

Bracken ist unsere Pflanze des Monats, der

Adlerfarn
Pteridium aquilinum

und Bracken ist auch das Dickicht, das er bildet und das auf der Insel große Flächen überwuchert.


Verloren im Dickicht: Bracken in Britannien

Kosmopoliten sind rar gesät in Zeiten wie diesen, wo manch einer sich abschottet gegen Zumutungen, die aus der bösen Welt herandrängen, ein Brutalbiedermaier errichtet, blind wütend gegen alles Fremde. Da kann man schon froh sein um einen Weltenbummler wie den Adlerfarn, der sich über alle Kontinente ausbreitet.

Seine weltweite Verbreitung verdankt er dem Menschen; überall dort, wo der Mensch gerodet hat, überwuchert der Farn die Flächen, sobald die Nutzung aufhört oder weniger intensiv wird. So verbreitet er sich in England etwa auf verlassenen Schafweiden und alten Ackerflächen, Moor- und Heideland, im Alpenraum auf Almen und Bergmähdern. Der Adlerfarn braucht viel Licht, von Natur aus kommt er vor allem auf Waldlichtungen und an Waldrändern vor.
...mit dem Rhizom allen Übels
Anders als andere Farne stirbt der Adlerfarn im Winter ab, die Farnwedel bilden verfilzte braune Dickichte (die Bracken). Im Frühjahr treiben aus unterirdischen Teilen des Stängels, dem Rhizom, neue Farne aus, die zwei bis drei Meter hoch werden können. Die Fiederblättchen entfalten sich aus kleinen Spiralen, die sich – klaro – nach dem Gesetz des Goldenen Schnittes winden (mehr zum Goldenen Schnitt im Blogpost vom November 2015). Die Rhizome des Adlerfarns wurden früher zerstoßen und zu Mehl verarbeitet und als Einstreu im Stall verwendet. Im Bayerischen Wald und Böhmerwald verwandte man die Asche verbrannter Farne bei der Glasbläserei.

Giftiger Goldener Schnitt: Junge Blättchen
Die Fähigkeit des Adlerfarns, Flächen zu überwuchern, kommt vor allem aus dem Rhizom – schon aus kleinsten Bruchstückchen wachsen neue Farne heran. Naturschützern bereitet die Vitalität dieser Pflanze Sorge, denn wertvolle Naturschutzflächen können Schaden nehmen, etwa Orchideenwiesen, Moore oder blumenreiche Almen.

Wie wird man Adlerfarn wieder los? Seine Entfernung erlaubt vielerorts die Wiederherstellung wertvoller Pflanzengesellschaften. Die Bekämpfung ist aber wie eine Dombauhütte – wenn man irgendwo fertig ist, bröckelt es anderswo schon wieder. Dass man den Adlerfarn in einem Ökosystem wieder los wird, kann man also nicht hoffen. Flächen, von Adlerfarn befreit, muss man alle paar Jahre bearbeiten – durch Mahd, schwere Rollen oder Pestizide. In England bringt man Vieh im Winter auf bracken areas. Sie zertrampeln Schösslinge und erlauben es dem Bodenfrost, einzudringen und die Rhizome zu zerstören. Dabei müssen Schafe und Kühe genug Futter haben, damit sie den giftigen Adlerfarn nicht fressen.
Adlerfarn, ein zähes Kraut
Ja, der Adlerfarn ist stark giftig. 500 Gramm Farnkraut können ein Rind töten. In Jungpflanzen befindet sich besonders viel einer Blausäureverbindung. Ein anderes Gift, das Enzym Thiaminase , zerstört Vitamin B1 und greift das Zentralnervensystem von Pferden, Ziegen und Schweinen an. Motorische Störungen sind die Folge. Bei Rindern kommt es zum „Stallrot“ oder „Blutschwitzen“, das sind Blutungen aus Maul und Nase, mit Blut im Harn oder blutigem Durchfall. In Japan, Neuseeland, manchen Gegenden der USA werden junge Adlerfarne als Wildgemüse gegessen. Das ist nicht ungefährlich: Adlerfarn enthält giftige Ptalquiloside, die nachweislich krebserregend sind. 

Farn-Sexualkunde

Wie blüht das Edelweiß? Richtig! Wie blüht der Enzian? Genau! Wie blüht der Adlerfarn? Häh? Wer an dieser Stelle irritiert innehält, hat recht: Farne blühen nicht. Sie gehören zur großen Gruppe der blütenlosen Pflanzen, wie Moose und Schachtelhalme, oder die uralten Baumfarne, die schon im Erdzeitalter des Karbons, vor 350 Millionen Jahren, riesige Wälder bildeten. Aus ihnen entstand unsere Steinkohle – Abdrücke von versteinerten Farnen finden sich darin immer wieder.

Farne vermehren sich durch Sporen. Die vereinigen sich auf der Blattunterseite in runden Gebilden, den Sori. Beim Adlerfarn reihen sich die Sori vor allem an den Blatträndern auf. Der Unterschied zwischen Samen und Sporen ist der, dass Sporen nicht aus einer Befruchtung hervorgehen. Sie bilden sich aus den Zellen der Farnwedel. Sie haben dieselbe Erbsubstanz wie die erwachsene Pflanze. Sporen gehen aus einer ungeschlechtlichen Vermehrung hervor.
Am Blattrand: Sori mit Sporen
Ja, haben Farne denn gar keinen Sex? Ist ihr Leben so öde wie das einer tausendjährigen Blaualge oder einer ewigen Bakterienspore? Zum Glück nicht, denn auch Farne haben eine geschlechtliche Vermehrung. Sie gehen beim Sex aber äußerst diskret vor. Kaum ein Laie hat sie dabei schon beobachtet:
Ehebett der Farne: das Prothallium
Wenn Sporen auskeimen entsteht kein neuer Farn, sondern ein wenige Millimeter großes Prothallium. Dieses Gebilde produziert nun männliche und weibliche Geschlechtszellen. Die Befruchtung geschieht im Wasser, ein Prothallium wächst auf feuchten oder nassen Böden. Die „Männchen“ schwimmen zu den weiblichen Eizellen und befruchten sie. Aus der befruchteten Eizelle wächst ein neuer Farn, der wiederum Sporen bildet. Männliche und weibliche Geschlechtzellen reifen nicht genau synchron heran, sodass die männlichen Geschlechtszellen mit ihrer Geißel zu einem fremden Prothallium schwimmen, um dort eine Eizelle zu befruchten. So wird der Austausch von genetischem Material garantiert, was die Evolution der Pflanzen vorantreibt und damit eine immer bessere Anpassung.
Bevor Geschlechtszellen heranwachsen, muss ihre Erbsubstanz, sitzend auf den Chromosomen, halbiert werden. Dies geschieht in einer doppelten Zellteilung, der Meiose. Ein Adlerfarn hat 204 Chromosomen. Die Geschlechtszellen haben nach der Meiose je 104 davon. Bei der Befruchtung nun verschmelzen die Geschlechtszellen und haben dann wieder 204 Chromosomen, genauso wie der Adlerfarn, der aus ihnen heranwächst.

Das war jetzt etwas schwere Kost, liebe Leser. Aber wir haben Fastenzeit, da kann es an dieser Stelle nicht immer nur leuchtende Blütenfarben und betörende Pflanzendüfte geben, da muss man sich schon auch mal anstrengen!

Bilder:
Wolf Schröder (2)
Wikipedia Commons (4)
Bracken Control Group (1)
 


 


 

 

 
 
 
 
 
 

 
 
 


Donnerstag, 14. Januar 2016

Granatapfel

Granatapfel
Punica granatum

Es ist wieder Granatapfelsaison. Unter der ledrigen Schale verbergen sich die granatroten Samen mit hartem Kern innen und süßsaurem Fruchtfleisch außen. Süßsauer? Nur, wenn man die richtige Frucht erwischt, sonst schmeckt's einfach sauer und die Zunge wird pelzig. Und - zumindest schreibt das im Netz der eine vom anderen ab - Granatäpfel reifen nicht nach, egal, wie lange man sie in der Küche lagert.

Granatapfel (Punica granatum) 


Der Granatapfel (oder Grenadine) war ein Geschenk Persiens und Indiens an die Länder des Mittelmeers. Die Römer nannten ihn den "punischen Apfel", nach den Karthagern, die ihnen nicht nur mit den Punischen Kriegen jahrzehntelang auf die Nerven gingen, sondern eben auch den Granatapfel aus ihren Stadtstaaten in Kleinasien und Nordafrika im Mittelmeerraum verbreiteteten. Der lateinische Name Punica stammt daher, granatum bezieht sich auf die vielen Kerne, grana, im Inneren. Im Mittelalter bauten die Araber die Frucht in ihren Kolonien in Andalusien und Sizilien an. Granada, die Hauptstadt der Mauren (Araber) in Spanien, hat sogar ihren Namen vom Granatapfel. Ganz Granada ist erfüllt von Darstellungen der granada auf Kanaldeckeln, Fresken und Azulejos, den charakteristischen Kacheln.

Azulejos Grenadians
Überall Granatäpfel: Azulejos in Granada
 
Der Granatapfel ist ein kleiner, bis acht Meter hoher Baum oder Strauch, der mediterranes Klima mit heißen trockenen Sommern und feuchten Wintern liebt. Im Winter wirft er seine schlanken, harten Blätter ab. Die heutigen Hauptanbaugebiete liegen in Marokko, der Türkei, China, Indien, Afghanistan, Nord- und Südamerika. Die Spanier brachten den Granatapfel im 15. Jahrhundert in die Neue Welt. Auch als Zierpflanze ist er beliebt, vor allem wegen seiner hübschen orangeroten Blüten, die monatelang am Baum blühen.


Orangerote Kelch- und Kronblätter.
 
Unter orangeroten Kelchblättern wachsen fünf bis neun Kronblätter und viele Staubblätter. Bei vielen Pflanzen sind die Kelchblätter grün, wie z.B. bei der Rose - die grünen Zipfel, die die Blüten umhüllen, sind die Kelchblätter. Die Kelchblätter des Granatapfels verholzen und bilden an der reifen Frucht das "Krönchen". Das bedeutet auch, dass die Frucht unterhalb des Fruchtknotens, wo sich die Kerne bilden, heranwächst. Man spricht von unterständiger Anordnung. Das Innere der Frucht ist von weißen Häutchen in verschiedene Kammern unterteilt, darin liegen die Kerne.


Die Kelchblätter verholzen zum "Krönchen",
die Früchte wachsen unterständig. 
Mühsam, die Kerne aus den Kammern herauszuschälen

 

Die Form der Erdkugel, blutrotes Fruchtfleisch, eine großen Anzahl an Kernen und ein Krönchen obenauf - diese Frucht hat Symbolpotential. So machten die vielen Kerne den Granatapfel zu einem Fruchtbarkeitssymbol. In der Türkei und Griechenland zerschmettern Bräute am Tag der Hochzeit einen Granatapfel am Boden - die Anzahl der Kerne, die herausfliegen, entsprechen der Zahl der Kinder, die der Ehe entspringen werden.

Was für einen Apfel hält ein Kaiser auf seinem Porträt in der Hand? Den Reichsapfel, oder? Nun,  auf Albrecht Dürers Porträt von 1519 umklammert Kaiser Maximilian I einen Granatapfel. Die Kammern der Frucht symbolisieren den Zusammenhalt der Völker im Heiligen Römischen Reich, die Kerne die Untertanen, die sich um ihren Herrscher scharen.


Granat- statt Reichsapfel: Kaiser Maximilian I, genannt der "Letzte Rittter"
Das berühmteste Granatapfelbild stammt von Sandro Botticelli: die Madonna della Melagrana von 1478. Hier ist die Frucht Symbol der Einheit der Kirche, in der sich die Gläubigen versammeln. Auf dem Bild hält das Jesuskind den Granatapfel; die Kerne symbolisieren hier auch die Blutstropfen in der Passion, die das Kind erwartet.


Symbolfrucht, hier in der
Madonna della Melagrana von Sandro Botticelli


Fotos: Wikimedia Commons
            Wolf Schröder

link: Madonna della Melagrana


Sonntag, 13. Dezember 2015

Efeu


Immergrüne Pflanze der Freundschaft:

Efeu

Hedera helix 


Mares eat oats and does eat oats and little lambs eat ivy.
Englischer Kinderreim

Die berühmten Jahreszeitenbilder Arcimboldos (1526 – 1593) zeigen uns die Fülle der mit dem Menschen verbundenen Pflanzen, ihre Bedeutung für Ernährung (Weizen, Mais, Kastanien, Dattel, Walnuss), Gesundheit (Orange, Zitrone, Artischocke, Knoblauch), Duft und Schönheit (Maiglöckchen, Rose, Jasmin), Rausch und Ritus (Weinrebe, Tollkirsche, Pilze).
Efeu im Winterbild Arcimboldos
 
Die immergrüne Pflanze der Freundschaft und Treue durfte da nicht fehlen, der beständige, unerschütterliche Efeu, der auch im Winter lebt, wenn andere Pflanzen abgestorben sind.

Jeder kennt diese Pflanze, sie klettert empor an Baumstämmen und Hausmauern. Ihr unaufhörliches Wuchern löst manchmal Besorgnis aus – sie schädige die Wände und bringe ihre Wirtsbäume zum Absterben. Hier wollen wir versuchen, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten.
Nur festhalten, nicht eindringen: Haftwurzeln des Efeus

Architekten und Hausbesitzer schreiben dem Efeu eher eine schützende Wirkung zu. Bewachsene Mauern erhitzen sich nie auf mehr als 30 Grad, während sie ungeschützt in der prallen Sonne schon mal 60 Grad heiß werden können; im Winter kühlen sie nicht so stark aus. Auch Sturm und Starkregen werden von der Wand ferngehalten. Efeu bindet Staub, schützt vor Schmutz. Und kaum jemand wird Efeu von der Mauer reißen, um ein Graffito zu sprayen…Allerdings können sich die Haftwurzeln des Efeus in Spalten und Ritzen bohren und so Schäden an der Mauer vergrößern und Wasser eindringen lassen. Und allerlei Krabbeltiere gelangen von dem grünen Wandteppich durch Fenster und Türen ins Haus – Efeu kann den Igitt-Faktor einer Wohnung erheblich vergrößern.

Im Wilden Osten konnten Architekten und Baumeister nach 1990 interessante Vergleiche anstellen zwischen Mauern, die Jahrzehnte vor sich hin verfielen und anderen, die, geschützt von einem Efeumantel, dem Ende der DDR entgegendämmerten. Besonders Mauern unter Verputz kamen nach der Entfernung des Efeubewuchses völlig intakt zum Vorschein.[1]
Was, Efeu ist kein Schmarotzer?

„Was, Efeu ist kein Schmarotzer?“, fragte mich der Naturforscher W.S. auf unserer Fototour zu dieser Pflanze. Auch von anderen hört man, dass Efeu Bäume erdrosselt, Äste durch sein Gewicht abbrechen lässt oder Blätter durch Beschattung zum Absterben bringt. Gärtner und Botaniker geben auch hier Entwarnung: Efeu sitzt seinen Wirtspflanzen nur auf, ist kein Schmarotzer. Sein Gewicht ist kaum jemals so groß, dass er dicke Äste knacken könnte und das Blattwerk der Bäume sitzt vor allem im oberen und äußeren Teil der Krone, wo Efeu nur selten hinauskommt.

Die Efeupflanze wächst nach dem Auskeimen zuerst waagrecht über den Boden, wobei sie immer neue Wurzeln ausbildet. So entstehen Geflechte, die manchmal den Boden bedecken. Sobald Efeu Felsen, Mauern oder Bäume erreicht, beginnt er, mit Hilfe vieler Haftwurzeln nach oben, zum Licht, emporzuwachsen. Efeu kann mehrere Hundert Jahre alt werden, seine Sprossachse (der „Stamm“) leicht Armdicke erreichen.

In unserer Vorstellung – und in der Kunst – haben wir das Bild der drei- bis fünflappigen Efeublätter vor uns. Bei älteren Pflanzen bilden die blühenden Sprosse andere, eiförmig-rhombische Blätter aus. Solche „komischen“ Efeublätter sind jene der blütentragenden Zweige. Blatt- Dimorphismus nennt man dieses gar nicht so seltene Phänomen von Blättern verschiedener Form in einer Pflanzenart.

Die eiförmigen Blätter der früchtetragenden Zweige
Im Spätsommer und Herbst bildet der Efeu seine grün-gelben Blütendolden aus. Sie sind unscheinbar und leicht zu übersehen – es sei denn, man geht an warmen Tagen vorüber, wenn Hunderte von Bienen sich an den Efeublüten Nektar holen.

Sein natürliches Verbreitungsgebiet umfasst Europa (bis nach Schweden im Norden) und Kleinasien. Mit der europäischen Kolonisation gelangte Efeu in alle Welt. In gemäßigten Breiten der Nord- und Südhalbkugel hat seine Vitalität ihn vielerorts zu einer invasiven Pflanze gemacht. In Kanada wird Efeu bekämpft, auch in Australien und Neuseeland. An der Ostküste der USA bedeckt Efeu die Mauern der berühmten Universitätsgebäude der Ivy League Harvard, Yale, Princeton, Wellesley - doch halt - im Herbst sind diese Blätter flammend rot. Dieser Ivy ist eigentlich wilder Wein, obwohl Efeu an der East Coast natürlich vorkommt. Wilder Wein und Efeu werden öfter mal verwechselt; zum Beispiel liest man im Netz, dass Efeu, anstatt Wein, eine Symbolpflanze Bacchus' sei.

„Gute Freunde kann niemand trennen“. sagte und sang schon der große Philosph Franz Beckenbauer. Sie bleiben einander verbunden, über Zeit und Raum. Was Wunder, dass der immergrüne, Halt suchende Efeu Symbol der Freundestreue ist, und der Hilfe, den gute Freunde in den Stürmen des Lebens einander gewähren.

Pflanze der Freundschaft: der immergrüne Efeu

Dieser Beitrag ist dem Gedenken meines lieben Freundes Othmar Heinz (1950-2015) gewidmet.




[1] http://www.geolinde.musin.de/stadt/begruenung/recherchegruppe.htm

 
 

 



 


Sonntag, 8. November 2015

Sonnenblume


Sonnenblume

Helianthus annuus

Sonnenblume im Feld
 
Es war die gute alte Zeit: Der Eiserne Vorhang fest geschlossen, Rauchen überall erlaubt, schwarz-weißes Fernsehen. Dort übertrug man Eishockey; die Mannschaft der UdSSR rammte jene des sozialistischen Brudervolkes der Tschechoslowakei regelmäßig ins Verderben. Bevor sie sich aufs Eis stürzten, sah man die „Russen“ ein geheimnisvolles Kraftfutter kauen – geröstete Sonnenblumenkerne, Semitschki – deren Schalen rechts und links aus den Mundwinkeln auf den Boden flogen. Gegen ein solches Doping konnte Schweijk nicht an.
Sowjetsozialistisches Kraftfutter

In unserer Vorstellung wogen die Sonnenblumenfelder in den Weiten der Ukraine und Russlands. Tatsächlich war es in Russland, um 1830, dass Sonnenblumen erstmals landwirtschaftlich angebaut wurden. Vorher waren sie in Europa nur als Zierpflanzen bekannt gewesen, nachdem die Spanier sie im 16. Jahrhundert aus den trockenen Gebieten Nordamerikas – Arizona, New Mexico, Nevada – mitgebracht hatten. Die Ureinwohner dort bauten die Sonnenblume schon vor mindestens 3000 Jahren an und ergänzten damit ihren Speisezettel aus Bohnen, Kürbis und Mais mit einem ölreichen Nahrungsmittel. Mit der Auslöschung der indianischen Kulturen ging auch die Anbaukultur der Sonnenblume verloren. Erst im 19. Jahrhundert kam sie über Russland wieder nach Nordamerika zurück. Russland, die Ukraine und die USA sind heute noch die größten Anbauländer von Sonnenblumen.

Im Blütenstand der Sonnenblume sind Hunderte kleiner Blüten vereinigt, die Röhrenblüten; zusammen mit den äußeren gelben sterilen Zungenblüten bilden sie eine große Schaublüte. So werden Bestäuber, vor allem Hummeln angelockt. Solche Schaublüten sind bei Korbblütlern häufig – zum Beispiel bei Edelweiß und Gänseblümchen, von denen im Eulenblick schon zu lesen war. Die Kerne reifen im Blütenstand von innen nach außen; sie enthalten bis zu 50 % Öl.
Kerne reifen von innen nach außen
Das wichtigste Produkt der Sonnenblume ist das Öl; Kerne sind ein kalorienreicher Snack, nicht nur für Eishockeyspieler, sondern auch für Vögel am Futterhäuschen. Sonnenblumenöl ist auch Trägersubstanz für Ölfarben; die Pressrückstände sind ein energiereiches Viehfutter.

Die Faszination der Sonnenblume resultiert, neben ihrer Größe, aus ihrem Heliotropismus, also aus ihrer Fähigkeit, sich nach der Sonne zu drehen. So fängt sie mehr Sonnenlicht ein und beschleunigt die Reifung der Kerne. Doch hat die Sonnenblume noch weitere Tricks auf Lager, um die Energie der Sonne anzuzapfen und so viele Kerne als möglich reifen zu lassen:

Folgt Fibonacci!

Welcher Regel folgt die Zahlenreihe 0 1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89?

Jedes Glied ist die Summe aus den beiden vorangegangenen Zahlen. Leonardo Fibonacci (1170-1240) aus Pisa entdeckte dieses Gesetz, das heute nach ihm benannt ist. Fibonacci-Zahlen findet man überall in der Natur, in den Schuppen von Fichtenzapfen, in der Ananas, in den Blütenblättern der Gänseblümchen – und in der doppelt spiralförmigen Anordnung der Sonnenblumenkerne.


Kluger Kopf: Leonardo Fibonacci
 
Zählt man die Spiralenreihen, in denen die Kerne heranreifen, kommt man immer auf bestimmte Zahlen: 13, 21, 34, 55, 89. Spiralen, die nach links gehen, bestimmen die Anzahl der rechtsdrehenden und umgekehrt: 34 linksdrehende stehen 55 rechtsdrehende gegenüber, 13 rechtsdrehende 21 linksdrehende. Sonnenblumenkerne sind also auf geheimnisvolle Weise an Fibonaccireihen gefesselt.


Fibonacci gebietet: Gegenläufige Spiralen der Kerne

 
Doch damit nicht genug: Benachbarte Fibonaccireihen stehen in einem Verhältnis zueinander, das ungefähr dem Goldenen Schnitt von 1,618 entspricht. Beim Goldenen Schnitt entspricht das Verhältnis der langen Strecke (A+B) zum längeren Teil A dem Verhältnis des größeren Teiles A zum kleineren Teil B. Aus dem Goldenen Schnitt kann man den Goldenen Winkel errechnen, er beträgt ungefähr 137,5 *. Bei der Sonnenblume stehen Blätter am Stiel und Kerne im Goldenen Winkel zueinander. Alles klar?


Verhältnis 1:1,618 - der Goldene Schnitt
Der Goldene Schnitt ermöglicht der Sonnenblume die dichteste Anordnung ihrer Kerne; ihre Stellung im Goldenen Winkel maximiert die Ausnutzung des Sonnenlichts und minimiert die Beschattung durch die Nachbarn. Ebenso fangen Blätter im Goldenen Winkel am meisten Sonnenlicht ein.

Hier ein berechneter Blütenstand mit 1000 Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen** - oder umgekehrt: Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen, bilden Fibonacci-Reihen. Capisc'?
Was für ein Blütenstand hier wohl gemeint ist?

Dichte Packung, beste Ausnutzung des Raums – Goldener Winkel und Schnitt begegnen uns in den verschiedensten Naturphänomenen: in den Spiralen von Nautilusmuschel oder Wirbelstürmen, im Verhältnis von Körperlänge und Breite der Flügel von Schmetterlingen, ja sogar in der Doppelhelix der DNS in unseren Zellkernen.
Das Prinzip des Goldenen Schnitts ist den Genen der Organsimen eingeschrieben, fixiert durch die Evolution, die erfolgversprechende Mechanismen belohnt. Die Sonnenblume „weiß“ also durch die genetische Information in ihrer DNS, wie viele Kerne oder Einzelblüten sie in welchem Abstand und Winkel gegeneinander anordnen muss.

Auf dem Zahlenverhältnis des Goldenen Schnitts baut sich die Ästhetik nicht nur der westlichen Kunst auf. Die Idealproportionen nach dem Goldenen Schnitt finden sich in den Bildern Leonardo da Vincis genauso wie in der Kuppel des Tadsch Mahal oder des Doms von Florenz, in den Tempeln der Akropolis wie in den Geigen Stradivaris. Und in den berühmen Sonnenblumen Van Goghs? Goldener Schnitt allüberall:

Goldener Schnitt

Es würde einen nicht wundern, wenn auch unser ästhetischer Geschmack in unseren Genen fixiert wäre.

*360 (1-f) wobei f dem Goldenen Schnitt entspricht
**http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/316888
Alle Fotos Wikimedia Commons