Sonntag, 8. November 2015

Sonnenblume


Sonnenblume

Helianthus annuus

Sonnenblume im Feld
 
Es war die gute alte Zeit: Der Eiserne Vorhang fest geschlossen, Rauchen überall erlaubt, schwarz-weißes Fernsehen. Dort übertrug man Eishockey; die Mannschaft der UdSSR rammte jene des sozialistischen Brudervolkes der Tschechoslowakei regelmäßig ins Verderben. Bevor sie sich aufs Eis stürzten, sah man die „Russen“ ein geheimnisvolles Kraftfutter kauen – geröstete Sonnenblumenkerne, Semitschki – deren Schalen rechts und links aus den Mundwinkeln auf den Boden flogen. Gegen ein solches Doping konnte Schweijk nicht an.
Sowjetsozialistisches Kraftfutter

In unserer Vorstellung wogen die Sonnenblumenfelder in den Weiten der Ukraine und Russlands. Tatsächlich war es in Russland, um 1830, dass Sonnenblumen erstmals landwirtschaftlich angebaut wurden. Vorher waren sie in Europa nur als Zierpflanzen bekannt gewesen, nachdem die Spanier sie im 16. Jahrhundert aus den trockenen Gebieten Nordamerikas – Arizona, New Mexico, Nevada – mitgebracht hatten. Die Ureinwohner dort bauten die Sonnenblume schon vor mindestens 3000 Jahren an und ergänzten damit ihren Speisezettel aus Bohnen, Kürbis und Mais mit einem ölreichen Nahrungsmittel. Mit der Auslöschung der indianischen Kulturen ging auch die Anbaukultur der Sonnenblume verloren. Erst im 19. Jahrhundert kam sie über Russland wieder nach Nordamerika zurück. Russland, die Ukraine und die USA sind heute noch die größten Anbauländer von Sonnenblumen.

Im Blütenstand der Sonnenblume sind Hunderte kleiner Blüten vereinigt, die Röhrenblüten; zusammen mit den äußeren gelben sterilen Zungenblüten bilden sie eine große Schaublüte. So werden Bestäuber, vor allem Hummeln angelockt. Solche Schaublüten sind bei Korbblütlern häufig – zum Beispiel bei Edelweiß und Gänseblümchen, von denen im Eulenblick schon zu lesen war. Die Kerne reifen im Blütenstand von innen nach außen; sie enthalten bis zu 50 % Öl.
Kerne reifen von innen nach außen
Das wichtigste Produkt der Sonnenblume ist das Öl; Kerne sind ein kalorienreicher Snack, nicht nur für Eishockeyspieler, sondern auch für Vögel am Futterhäuschen. Sonnenblumenöl ist auch Trägersubstanz für Ölfarben; die Pressrückstände sind ein energiereiches Viehfutter.

Die Faszination der Sonnenblume resultiert, neben ihrer Größe, aus ihrem Heliotropismus, also aus ihrer Fähigkeit, sich nach der Sonne zu drehen. So fängt sie mehr Sonnenlicht ein und beschleunigt die Reifung der Kerne. Doch hat die Sonnenblume noch weitere Tricks auf Lager, um die Energie der Sonne anzuzapfen und so viele Kerne als möglich reifen zu lassen:

Folgt Fibonacci!

Welcher Regel folgt die Zahlenreihe 0 1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89?

Jedes Glied ist die Summe aus den beiden vorangegangenen Zahlen. Leonardo Fibonacci (1170-1240) aus Pisa entdeckte dieses Gesetz, das heute nach ihm benannt ist. Fibonacci-Zahlen findet man überall in der Natur, in den Schuppen von Fichtenzapfen, in der Ananas, in den Blütenblättern der Gänseblümchen – und in der doppelt spiralförmigen Anordnung der Sonnenblumenkerne.


Kluger Kopf: Leonardo Fibonacci
 
Zählt man die Spiralenreihen, in denen die Kerne heranreifen, kommt man immer auf bestimmte Zahlen: 13, 21, 34, 55, 89. Spiralen, die nach links gehen, bestimmen die Anzahl der rechtsdrehenden und umgekehrt: 34 linksdrehende stehen 55 rechtsdrehende gegenüber, 13 rechtsdrehende 21 linksdrehende. Sonnenblumenkerne sind also auf geheimnisvolle Weise an Fibonaccireihen gefesselt.


Fibonacci gebietet: Gegenläufige Spiralen der Kerne

 
Doch damit nicht genug: Benachbarte Fibonaccireihen stehen in einem Verhältnis zueinander, das ungefähr dem Goldenen Schnitt von 1,618 entspricht. Beim Goldenen Schnitt entspricht das Verhältnis der langen Strecke (A+B) zum längeren Teil A dem Verhältnis des größeren Teiles A zum kleineren Teil B. Aus dem Goldenen Schnitt kann man den Goldenen Winkel errechnen, er beträgt ungefähr 137,5 *. Bei der Sonnenblume stehen Blätter am Stiel und Kerne im Goldenen Winkel zueinander. Alles klar?


Verhältnis 1:1,618 - der Goldene Schnitt
Der Goldene Schnitt ermöglicht der Sonnenblume die dichteste Anordnung ihrer Kerne; ihre Stellung im Goldenen Winkel maximiert die Ausnutzung des Sonnenlichts und minimiert die Beschattung durch die Nachbarn. Ebenso fangen Blätter im Goldenen Winkel am meisten Sonnenlicht ein.

Hier ein berechneter Blütenstand mit 1000 Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen** - oder umgekehrt: Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen, bilden Fibonacci-Reihen. Capisc'?
Was für ein Blütenstand hier wohl gemeint ist?

Dichte Packung, beste Ausnutzung des Raums – Goldener Winkel und Schnitt begegnen uns in den verschiedensten Naturphänomenen: in den Spiralen von Nautilusmuschel oder Wirbelstürmen, im Verhältnis von Körperlänge und Breite der Flügel von Schmetterlingen, ja sogar in der Doppelhelix der DNS in unseren Zellkernen.
Das Prinzip des Goldenen Schnitts ist den Genen der Organsimen eingeschrieben, fixiert durch die Evolution, die erfolgversprechende Mechanismen belohnt. Die Sonnenblume „weiß“ also durch die genetische Information in ihrer DNS, wie viele Kerne oder Einzelblüten sie in welchem Abstand und Winkel gegeneinander anordnen muss.

Auf dem Zahlenverhältnis des Goldenen Schnitts baut sich die Ästhetik nicht nur der westlichen Kunst auf. Die Idealproportionen nach dem Goldenen Schnitt finden sich in den Bildern Leonardo da Vincis genauso wie in der Kuppel des Tadsch Mahal oder des Doms von Florenz, in den Tempeln der Akropolis wie in den Geigen Stradivaris. Und in den berühmen Sonnenblumen Van Goghs? Goldener Schnitt allüberall:

Goldener Schnitt

Es würde einen nicht wundern, wenn auch unser ästhetischer Geschmack in unseren Genen fixiert wäre.

*360 (1-f) wobei f dem Goldenen Schnitt entspricht
**http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/316888
Alle Fotos Wikimedia Commons