Castanea sativa
Auf zum Törggelen
Durch
die Fußgängerzonen zieht jetzt wieder der rauchige Duft der Maronibratereien.
Die gebratenen Kastanien, kross, süß und sättigend, gehören zum Besten, was der
Herbst zu bieten hat. In Südtirol kosten die Leute beim Törggelen die Köschtn
und den neuen Wein. Die Nomenklatur der Kastanien ist etwas verwirrend: In
Südtirol heißen sie Köschtn; Maroni
oder Maronen in Deutschland und
Österreich. In Italien sind geröstete Kastanien die caldarroste. Castagne
sind die wilden Früchte aus dem Kastanienwald, die marroni kommen aus dem marroneto,
dem Kastanienhain, in dem die veredelten Kastanienriesen stehen. Doch dazu
weiter unten mehr. Mit der Rosskastanie, dem Baum der bayerischen Biergärten,
ist die Edelkastanie nicht verwandt. Nur die Kastanienigel ähneln sich
oberflächlich.
Die
Kastanien sind die Früchte der Edelkastanie, Castanea sativa. Dieser Baum ist eine seit Jahrtausenden vom
Menschen genutzte Kulturpflanze. Sein natürliches Verbreitungsgebiet ist kaum
noch feststellbar. Wahrscheinlich kommt die Edelkastanie ursprünglich aus
Südeuropa und Kleinasien. Das Anbaugebiet geht von Westeuropa und England über
Deutschland bis nach Südrussland. In Deutschland gibt es Keschten im Pfälzer Wald (Haardt), im Rheintal und im Taunus, also
in wärmeren Gegenden, denn die Edelkastanie will ein gemäßigtes Klima. Nicht zu
trocken und nicht zu nass soll es sein, Spätfröste und Dürre
nimmt sie ebenfalls übel.
Nur oberflächlich der Rosskastanie ähnlich |
Die
Edelkastanie ist ein sehr langlebiger Baum; sie kann 400 bis 500 Jahre alt
werden. Die majestätischen Kastanien der Marroneti nehmen oft riesige Ausmaße
an mit Durchmessern von sechs bis 8 Metern.
Die
Blätter der Edelkastanie sind groß, 15 bis 25 cm lang, spatelförmig und
gezähnt. Die Blüte erfolgt sehr spät im Juni. Dann leuchten die weißlichen, bis
20 cm langen männlichen Blütenkätzchen aus den Kronen. Aus dem Pollen entsteht
der kräftig-herbe Kastanienhonig. Es gibt rein männliche Blütenkätzchen und
Zwitterblüten, wo an der Basis der Kätzchen die kleinen weiblichen Blüten sitzen,
aus denen bis zum Herbst die stacheligen Früchte heranreifen.
Schon in
der Antike wurde die Edelkastanie vom Menschen genutzt und angepflanzt. Die
Griechen brachten sie nach Süditalien, in die Magna Graecia. Nach England kam sie mit den römischen Legionären,
die Kastanien als staple food mit
sich führten. Seit dem Mittelalter ist die Verbreitung der Kastanie durch die
Benediktiner bekannt.
In der
langen Zeit der Nutzung durch den Menschen entwickelte sich eine Reihe von
hochdifferenzierten Kulturtechniken rund um den Anbau und die Verarbeitung der
Edelkastanien. Der Baum tritt uns im Kastanienwald entgegen, der vor allem der
Holzgewinnung dient und im Kastanienhain, aus dem die Maroni kommen.
Mathilde von Canossa, weise Förderin der Edelkastanie |
Brotbaum
der Bergbewohner
Im
Mittelalter erfuhr die Edelkastanie eine große Ausdehnung ihres Anbaugebietes.
Die Bevölkerung wuchs; die Siedlungen dehnten sich bis in die Berge aus. Hier,
im kühlen Klima, reifte das Getreide nicht mehr, die Menschen gewannen ihr Mehl
aus der Kastanie. Das Kastanienmehl, zu Polenta verkocht, war das
Grundnahrungsmittel. Die Kastanien stammten aus dem Marroneto, dem
Kastanienhain, in dem riesige Kastanien in regelmäßigen Abständen stehen.
Dazwischen weideten Schafe; sie hielten das Gras kurz und bewahrten den Hain
vor Bränden. Die Bauern bewirtschafteten den Marroneto wie einen Garten – sie beschnitten
die Kronen der Kastanien, entfernten tote Äste, entbuschten und entsteinten die
Flächen. Die Blätter der Bäume dienten als Einstreu im Stall und als - nicht
sehr hochwertiges - Futter. Die Verteilung der Bäume auf der Fläche unterliegt
Regeln, die seit fast 1000 Jahren gelten. In Italien heißt der Pflanzabstand matildico, nach der großen Mathilde von
Canossa (1046 – 1115), der Markgräfin von Tuszien (Toskana) und der Emilia –
Romagna, die als Vermittlerin im Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser,
der 1076 im „Gang nach Canossa“ Heinrichs IVendete, in die Geschichte einging.
Doch Mathilde trieb auch die Kolonisierung der Berge in ihrer Markgrafschaft
voran. Im mathildischen Kastanienhain stehen
die Kastanienbäume in Abständen von ca. 10 Meter zueinander. So frei stehend,
können die Kastanien ihre riesigen Kronen ausbreiten und viele Kastanien produzieren.
Ein mathildischer Kastanienhain |
San
Michele – una cria nel paniere
An
Michaeli eine Kastanie im Brotkorb
Das
Hauptprodukt der Kastanienhaine war das Kastanienmehl. Jede bäuerliche Familie
hatten ihre Anbaufläche; alle Mitglieder arbeiteten bei der Ernte mit. Stichtag
für den Beginn der Ernte war das Fest des Erzengel Michael am 29. September.
Die Früchte wurden entweder vom Boden aufgelesen oder mit Stangen von den
Bäumen geschlagen.
In den
Kastanienhainen Italiens oder in den Dörfern stehen oft die alten metati, die Dörröfen, in denen die
Kastanien getrocknet wurden. Durch eine Luke warf man eine Schicht frischer
Kastanien von 10 – 20 cm Höhe auf
leicht auseinanderliegende Holzstangen. Darunter brannte einen
Monat lang Tag und Nacht ein niedriges Feuer aus Kastanienholz, das die
Kastanien trocknete. Zum Schälen kamen die Kastanien in große Körbe; die Leute
zerstampften sie mit Nagelbrettern, die sie an den Füßen trugen. Der Metato
wurde Tag und Nacht bewacht, um Brände und Diebstahl zu verhindern. Diese Zeit
war ein Fest für die Menschen: um das Feuer wurde die veglia, die Nachtwache gehalten, man aß Kastanien, trank Wein und erzählte die alten Sagen und Geschichten
aus den Bergen. Die getrockneten Kastanien wurden in der Mühle zu Mehl
vermahlen. 100 kg getrocknete Kastanien ergaben 90 kg Mehl.
Zeuge der alten Kastanienkultur: der Metato |
Es gibt
sehr viele Sorten von Kastanien. Die wichtigste Unterschiedung ist jene
zwischen Mehl- und Röstkastanien, den Marroni. Letztere weisen einen höheren
Eiweißgehalt auf; aus ihnen gewonnenes Mehl würde schnell verderben. Kastanienhaine,
die Marroni produzieren, stehen vor allem in der Nähe der Städte, in die die
Marroni geliefert werden.
In
meinem alten Botanikbuch sind Mehlkastanien und Marroni so unterschieden:
Marroni
– 1-2 Früchte pro Igel, das Häutchen ist dünn, faltet sich nicht ins Innere der
Frucht; leicht schälbar;
Kastanien
2-4 Früchte pro Igel, dunklere Schale und ein Häutchen, das sich in die Frucht
hineinfaltet; schwer schälbar.
Stöcke schlagen aus
Laubbäume
haben die Fähigkeit, sich nicht nur aus dem Samen zu erneuern, sondern auch aus
sogenannten Stockausschlägen: Wenn ein Baum gefällt wird, treiben aus ruhenden
Knospen in seiner Rinde aus dem Baumstrunk neue Triebe aus. Ein solcher Wald
wird Niederwald genannt. Im Mittelmeerraum und am Balkan hatten Niederwälder
vor allem eine sehr große Bedeutung als Brennholzlieferanten. In Mittel- und
Nordeuropa kam das Brennholz hauptsächlich von Nadelbäumen wie der Fichte. In
Deutschland gab es Buchenniederwälder vor allem in der Nähe von Hüttenwerken
und Glashütten. In Niederwäldern wurde aber auch Bau- und Werkholz für die
verschiedensten Zwecke gewonnen.
Riesiger Kastanienstock mit Stockausschlägen |
Auch
Kastanienwälder sind meist Niederwälder. Dort ist der Mensch nicht an den
Früchten interessiert, sondern am Holz. Ein Niederwald kann in relativ kurzen
Abstanden, zwischen 10 und 25 Jahren etwa, immer wieder genutzt, „auf den Stock
gesetzt“ werden. Kastanienwälder wurden typischerweise im 7jährigem Abstand eingeschlagen, zur
Gewinnung von Pfählen für den Weinbau. Mit der Zeit bildeten sich riesige, innen
hohle Kastaniestöcke, an deren Rändern die neuen Stockausschläge wuchsen. Heute
stützen Betonsäulen die Reben, Kastaniewälder werden seltener genutzt,
manchmal nur noch alle 50 Jahre.
Produkte aus dem Kastanienniederwald |
Kastanie
am Ende?
Um die
Mitte des letzten Jahrhundert hatte ein scheinbar unaufhaltsamer Niedergang der
Edelkastanie eingesetzt. 1938 landeten im Hafen von Neapel Munitionskisten aus
Kastanienholz aus den USA. Das Holz war mit einem Pilz infiziert, dem
Kastanienrindenkrebs Endothia parasitica.
Der Krebs stammte ursprünglich aus China und hatte im Osten der USA, in den
Appalachen, den dortigen Chestnut Tree
ausgerottet. Der Kastanienrindenkrebs begann in allen europäischen
Kastanienwäldern zu wüten. Gleichzeitig setzten Industrialisierung und
Landflucht ein, Haine und Wälder wurden vernachlässigt, ihre Pflege hörte auf.
Die mehrtausendjährige Kastanienkultur schien verloren. Heute breitet sich
unter Experten wieder vorsichtiger Optimismus aus: Kastanienwälder entwickeln
widerstandsfähige Stockausschläge, bilden unter der Rinde eine schützende
Korkschicht gegen das Pilzgewebe aus. Auch die Pflege alter Marroneti und die
Anlage neuer nimmt zu: es gibt einen guten Markt für hochwertige Marroni in
ganz Europa. Aus dem Mugello nördlich von Florenz kommt z.B. die von der EU
geförderte eingetragene Marke Marrone del Mugello I.G.P. Wer Kastanien isst,
trägt bei zum Erhalt und zur Pflege der Kastanienhaine mit ihren Jahrhunderte
alten Baumriesen. In diesem Sinne: auf zum Törggelen!
Ein gefährlicher Parasit: der Kastanienrindenkrebs |
Wirklich ein sehr interessanter Blog, der Eulenblick! Die Beiträge der Monate Oktober und November haben mir besonders gut gefallen.
AntwortenLöschenVor Jahren habe ich im Frühlingstal einen kleinen Kastanienbaum ausgegraben und ihn im Garten in Flains in die Hecke gepflanzt - ich dachte, vielleicht gedeiht er ja als Strauch. Inzwischen ist er ein ziemlich hoher Baum geworden, der heuer erstmals Kastanien getragen hat. Wahrscheinlich der nördlichste Kastanienbaum Südtirols und noch dazu auf 1000 m... Herzlichen Gruß, Reinhard