Ein Rispengras mit komplexen kleinen Blüten |
Eiche: (seufzend) „Ich
fürchte mich schon vor dem nächsten Vollmond. Da kommen wieder die tree hugger und der Schamane mit seiner
verstimmten Trommel, schreien rum und zertrampeln meine Wurzeln. Hoffentlich
ist das Wetter schlecht, dann kommen weniger. “
Linde: „Ich weiß, was du meinst. Bei mir waren sie wieder am
21. März, zu Frühlingsbeginn, mit stundenlangen Tänzen und Lobgesängen auf
Mutter Erde und anschließender Sonnenanbetung im Morgengrauen. A Schmarrn, wie
die Bayern sagen.“Schilfrohr: „Ihr seid alt und riesig – deshalb nennen sie euch heilig und anbetungswürdig. Komisch nur, dass um mich niemand herumtanzt, wo ich so groß bin wie ein halber See und 8.000 Jahre alt werde.“
Die Frage ausbleibender vollmondnächtlicher Tänze um das Schilfrohr (Phragmites australis) kann der Eulenblick nicht beantworten. Ehrfurchtgebietende Größe, ehrwürdiges Alter, die meist genannten Gründe dafür, dass Bäume in die sakrale Sphäre vorrücken, könnte auch das Schilfrohr, unsere Pflanze des Monats, vorweisen. Vielleicht ist es zu unscheinbar, zu unglamourös, um transzendentale Zuschreibungen auf sich zu ziehen?
Schilfrohr oder Schilf, das unsere Seeufer säumt und in
Teichen und Mooren steht, wächst aus dem Rhizom heraus, dem unterirdischen Teil
des Stängels. Dieses Rhizom schiebt sich an seiner Spitze unaufhörlich weiter (am Tag
bis zu drei Zentimeter während der Vegetationsperiode), während es an seinem
Ende abstirbt. Aus den Rhizomen wachsen Ausläufer, die bis 20 m lang werden und
immer neue Halme austreiben und nach oben wachsen lassen. So kann ein ganzer
Schilfbestand aus einem einzigen Individuum erwachsen. Das Rhizom überlebt
auch, wenn die Schilfhalme im Herbst absterben. Es ist quasi unsterblich – im
Donaudelta sollen Schilfpflanzen leben, die an die 8000 Jahre alt sind!
Das immer weiter in Richtung Gewässermitte vordringende
Schilf leitet die Verlandung von Seen ein. Zwischen den dichten Stängeln und
unterirdischen Rhizomen sammelt sich viel Schlick und Sand, zusammen mit dem
abgestorbenen Pflanzenmaterial setzt eine erste Bodenbildung ein. Unsere
voralpinen Seen sind Relikte der Eiszeit, manche sind in den letzten
Jahrtausenden verlandet, dank des fleißigen Schilfwachstums. So sind die heutigen
Moore des Alpenvorlandes meist verlandete nacheiszeitliche Seen – auch in ihnen
finden wir mehr oder weniger ausgeprägte Röhrichte, wie man Schilfbestände
nennt. Schilf findet man in bis zu einem Meter tiefen Wasser. Schilfhalme
werden drei bis vier Meter hoch. Das im Sommer grüne Schilf bildet im Winter
und Frühjahr die charakteristischen hellbraunen Schilfgürtel.
Im Sommer grün, im Winter braun |
Lässt nacheiszeitliche Seen verlanden: Schilf |
Schilf ist ein Gras, ein Rispengras. Die charakteristische
Rispe ist groß, mit vielen kleinen Ährchen besetzt. Jedes dieses Ährchen
enthält vier bis sechs winzige Blüten; die unterste Blüte ist männlich, die
anderen sind zwittrig. Die Pollen der Gräser werden durch den Wind verbreitet –
leidgeprüfte Allergiker können ein Lied davon singen.
Charles Darwin hat uns gezeigt, warum nur Fremdbestäubung
die Evolution von Organismen vorantreiben kann (s. Artikel über den „Stern von
Madagskar“). Wenn nun die rein männlichen Blüten unten an den Ährchen sitzen,
erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Pollen nicht auf die darüber
liegenden Blüten gelangt, sondern vom Wind seitlich verblasen wird - die
Wahrscheinlichkeit von Frembestäubung nimmt zu.
Die kleinen Samen des Schilfrohrs sind behaart – so werden
sie vom Wind weit verblasen. Die langen lanzettlichen Blätter haben zwei quer
verlaufende Zick-Zack-Linien, „Eselsbiss“ genannt. Die Blätter können nicht
benetzt werden – Schilfblätter weisen den Lotuseffekt auf, von dem im Eulenblick ja schon ausführlich die Rede
war.
Da hat der Esel hineingebissen |
Rohrdommel, Schilf-, Teich-,
Drossel-, Sumpfrohrsänger – Schilf ist ein gemütliches Heim für viele
Vogelarten. Sie hängen ihre Nester an die Halme oder setzen sie an trockeneren
Stellen auf den Boden. Füchse, Marder und andere Bösewichter würden sich nasse
Füße holen bei der Nesträuberei – das lässt die wasserscheuen Räuber oft vor
Untaten zurückschrecken. Im Schilf brüten auch diverse unscheinbare Schwirle,
aber auch solche beauties wie
Blaukehlchen oder Rohrammer.
Auch in vielen Ortsnamen finden
wir das Schilfrohr wie in Rohrmoos, Rohrbach, Rohrfeld oder in Familiennamen
wie Rohrmoser oder Rohrmann.Do bin i dahoam: Blaukehlchen |
Schilf ist einer der ältesten Baustoffe der Menschheit. Spätestens seit der Sesshaftwerdung der Menschen in der Jungsteinzeit vor über 11.000 Jahren war Schilf der Rohstoff für Dächer, Wände (in Lehm eingebettet), Matten. Bis weit ins Mittelalter lebten Arme in elenden Schilfhütten, überall dort, wo es reichlich Schilf gab, zum Beispiel an Seen oder in Flusstälern.
Nach so vielen Jahrtausenden hat Schilf heute noch Bedeutung als Baustoff, zum Beispiel für die Reetdächer Norddeutschlands und Skandinaviens. In manchen Orten auf Nordseeinseln, wie z.B. in Kampen auf Sylt, müssen alle Häuser mit Reet, also Schilf, gedeckt werden. Doch auch Dämmplatten, Schilfmatten, Sichtschutzblenden werden aus Schilf hergestellt.
Einer der ältesten Werkstoffe der Menschheit... |
...in der Jungsteinzeit (Rekonstruktion) |
..im Mittelalter |
...und heute |
Auch in Schilfkläranlagen leistet Schilf gute Dienste; die hohlen Stängelteile belüften das Wasser; an den vielen Feinwurzeln des Schilfs („Wurzelhaare“) mit ihren großen Oberflächen siedeln die Bakterien, die die eingeschwemmten organischen Substanzen abbauen.
Bildnachweis:
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