Donnerstag, 30. Juni 2016

Wollgras

Wollgras
Eriophorum spec.

Moos und Filz

Nach dem Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren breiteten sich Wälder aus, Bodenbildung setzte ein. In flachen Niederungen und Senken sehr regenreicher Gebiete Mittel- und Nordeuropas, des Alpenvorlandes, Skandinaviens, Irlands und Sibiriens lag der Grundwasserspiegel so hoch, dass abgestorbene Pflanzenteile sich unter Sauerstoffabschluss nicht zersetzten. Hier wuchs kein Wald, es bildete sich Torf, der sich zu immer dickeren Schichten aufhäufte. Moore entstanden.
Zwischen Orchideen steht das Wollgras im Niedermoor

In verlandenden Seen, Flussniederungen, Ebenen bildeten sich Niedermoore. Das Grundwasser reicht bis an die Oberfläche; manche Niedermoore können in Trockenperioden sogar eine Zeitlang trockenfallen. Der Mensch nutzte sie schon früh, als (schlechte) Weide oder zur Mahd. Das Mähgut wurde in den Ställen als Einstreu für das Vieh verwendet. Solche Niedermoore, auch Streuwiesen genannt, sind sehr artenreich, viele stehen unter Naturschutz. Zwischen Schilf, Riedgras und Binsen blühen Enzian, Schwertlilien, Orchideen in lila, gelb und weiß, dazwischen stehen die nickenden Köpfchen der Wollgräser.

In diesem Lebensraum wachsen zwei Arten von Wollgräsern, das breitblättrige und das schmalblättrige Wollgras. Im Juni sieht man jetzt überall die nickenden weißen Köpfchen. Doch „blühen“ sie jetzt nicht - die wolligen Ährchen sind die Fruchtstände des Wollgrases. Will sagen: es sind die winzigen Samen, an denen die bis fünf Zentimeter langen Haare hängen. Der Wind verfrachtet sie mitunter kilometerweit.
Im Boris-Johnson-Look: Schmalblättriges Wollgras

Beide Arten haben mehrere (bis 12) Ährchen am Stängel, die Blätter des breitblättrigen Wollgrases sind breiter, aber auch nicht mehr als acht Millimeter; die Stiele seiner Ährchen fühlen sich etwas rau an. Das schmalblättrige Wollgras ist häufiger als sein Zwilling; es wächst auf saureren, kalkärmeren Böden.
Zwillinge, die man nicht kennt, verwechselt man leicht. So tut sich auch der munter einherschreitende Wanderer schwer, die beiden Arten im Vorübergehen auseinander zu halten. Auf einer botanischen Exkursion rätselte sogar der Fachmann, der ein Wollgras in der Hand hatte, ob breit- oder schmalblättrig. Und auch bei der unterfertigten Bloggerin hier lösen sich die diesbezüglichen Nebel erst allmählich. Und raunte nicht schon damals, im fernen Mittelalter, die Heilige Hildegard: “Ein Wollgras ist ein Wollgras ist ein Wollgras?“
Schmalblättriges Wollgras
 

 
Breitblättriges Wollgras
Scheiden-Wollgras

In sehr kalten und kühlen Klimaten, wo der Abbau der Pflanzen besonders langsam vor sich geht, wächst der Torf immer mehr in die Höhe. Deshalb sprechen wir von einem Hochmoor. Mit der Zeit – in Jahrhunderten bis Jahrtausenden - verlieren die Wurzeln der Pflanzen den Kontakt zum Grundwasser. Das Moor wird nur noch durch den Regen gespeist. Im Torf bildet sich ein eigener, sekundärer Grundwasserspiegel aus. Mineralstoffe werden ausgewaschen, der Torf wird immer saurer. Nur hochspezialisierte Pflanzen können hier überleben. Am häufigsten sind die rötlichen Torfmoose, sie bilden Polster, die sogenannten Bulten, die sich uhrglasförmig krümmen. Zwischen den Torfmoosen wächst die Rosmarinheide, (weder verwandt noch verschwägert mit dem Küchenkraut), der fleischfressende Sonnentau und ein weiteres Wollgras, das Scheiden-Wollgras. Und dieses macht es uns leicht, es von seinen Geschwistern zu unterscheiden, denn es bildet nur ein einziges Ährchen aus. Es wächst in sehr dichten Polstern, die zu den stärksten Torfbildnern gehören. Sie hängen über die vielen unterirdischen Ausläufer zusammen, die das Scheiden-Wollgras bildet.

Nur ein Ährchen: Scheiden-Wollgras im schottischen Hochmoor
 
In Bayern unterscheidet die Sprache genau zwischen Nieder- und Hochmoor. Ersteres ist ein Moos, letzteres ein Filz. In vielen Flurnamen kommen Moos (pl. Möser) und Filz vor, etwa Murnauer Moos, Donaumoos, Sindelsdorfer Filz, Kendlfilz.
Polster des Scheiden-Wollgrases, davor...
...rötliches Torfmoos und sprießende Nadeln der Rosmarinheide

Schon früh begann die Trockenlegung der Moore in Europa. Die älteste bekannte Entsumpfung ist jene des Forums in Rom durch den Bau der Cloaca Maxima. Im frühen Mittelalter legten fleißige Mönche Sümpfe trocken, vor allem Zisterzienser und Benediktiner. Viele Klöster stehen an sumpfigen Orten; zum Beispiel das Kloster Benediktbeuern, von wo aus die Mönche ab dem 9. Jahrhundert ins Moor zogen.
Entzieht man einem Moor das Wasser, durch Gräben, Drainagen oder Flussregulierungen, löst es sich buchstäblich in Luft auf. Der poröse Torf fällt beim Trocknen in sich zusammen, er baut sich unter Sauerstoffeinwirkung ab. Im ehemaligen Donaumoos etwa liegt der Boden heute drei Meter tiefer als vor der Entwässerung. Getrockneter Torf wurde in Moorgegenden über Jahrhunderte als - sehr unergiebiger - Brennstoff verwendet. Geologisch betrachtet stellt Torf die erste Stufe der Kohlebildung dar - unter Druck und Hitze verwandelt er sich unter der Erdoberfläche und in Jahrmillionen zuerst in Braunkohle, dann in Steinkohle und zuletzt in Anthrazit.
In ganz Europa sind über Jahrhunderte sehr viele Moore verschwunden. Manche geschädigten Moore in Naturschutzgebieten versucht man zu restaurieren. Niedermoore, also Möser, regenerieren sich relativ schnell, wenn der Grundwasserspiegel wieder angehoben wird. Die Torfbildung setzt ein, und auch die typischen Pflanzen kommen zurück.
Bei Hochmooren, also Filzen, ist es komplizierter. Wenn sie entwässert werden, wird der eigene Regen-Grundwasserspiegel zerstört. Torfmoose bauen sich ab, die gewölbten Bulten verschwinden. Bei der Wiedervernässung kann es Jahrhunderte dauern, bis die typischen Strukturen sich wieder bilden. Zu den wichtigsten Torfbildnern gehört dabei – da schau her – das Scheiden-Wollgras durch seine dichten Horste und die vielen unterirdischen Ausläufer.
Verfilzte unterirdische Ausläufer des Scheiden-Wollgrases: wichtigste Torfbildner
 
Zuletzt eine kleine Polemik: 
Wenn man manche Naturschützer fragt, warum Moore denn wichtig wären, wird man, so fürchte ich, leider oft hören: "Sie sind wichtig für den Klimaschutz". Das stimmt insofern, als Moore ja Pflanzen konservieren und das in ihnen gespeicherte Kohlendioxid erst frei wird, wenn sie austrocknen und verwesen. Im Publikum entsteht aber leider, so mein Eindruck, oft das Missverständnis, dass der viele Torf per se das Klima schützt. Nach einem solchen Argument wären aber Erdöl- und Schiefergaslager am allerwichtigsten "für den Klimaschutz", so lange sie in der Erde ruhen. Moore "schützen" das Klima nur insofern, als sie eine Kohlendioxidsenke darstellen, wenn neu abgestorbene Pflanzenteile nicht verrotten, sondern konserviert und langsam zu Torf werden. Doch macht das gebundene Kohlendioxid in dieser "Senke" nicht allzu viel her . Ich schätzte mal grob, dass das Murnauer Moos im Jahr nicht so viel Kohlendioxid neu speichert, als die Lastwagen für den Transport von Biojoghurt in die Supermärkte der Gegend in die Luft blasen.
Abgedroschene Klimaschutzformeln laufen Gefahr, die Öffentlichkeit zu ermüden und zu verdrießen. Und etwas weniger Denkfaulheit würde die richtig starken (meiner subjektiven Meinung nach) Argumente hervorbringen:
  • Biologische: Die große Artenvielfalt nicht nur an Pflanzen, sondern auch an seltenen Vögeln (Bodenbrütern) und Insekten
  • Ästhetische: Die großen Möser und kleinen Filze machen zusammen mit Wäldern und Seen (und Bergen im Hintergrund) den Reiz vieler europäischer Landschaften aus
  • Kulturhistorische: Um Nutzung und Bewirtschaftung der Moore in früheren Zeiten spannen sich viele Bräuche, Riten, Regeln und Gesetze, Arbeitsabläufe, Geräte, die der Zustand der heutigen Moore widerspiegelt.
Dann wäre auch das Klimaschutzargument gefragt, wenn man es differenziert in seiner Größenordnung darstellt.

Fotos:
A. Schneider 4
W. Schröder 1
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Elke Freese
Janus (Jan Kops)