Sonnenblume
Helianthus annuus
Sonnenblume im Feld |
Es war die gute alte Zeit: Der Eiserne Vorhang fest
geschlossen, Rauchen überall erlaubt, schwarz-weißes Fernsehen. Dort übertrug
man Eishockey; die Mannschaft der UdSSR rammte jene des sozialistischen
Brudervolkes der Tschechoslowakei regelmäßig ins Verderben. Bevor sie sich aufs
Eis stürzten, sah man die „Russen“ ein geheimnisvolles Kraftfutter kauen – geröstete
Sonnenblumenkerne, Semitschki – deren
Schalen rechts und links aus den Mundwinkeln auf den Boden flogen. Gegen ein
solches Doping konnte Schweijk nicht an.
Sowjetsozialistisches Kraftfutter |
In unserer Vorstellung wogen die Sonnenblumenfelder in den Weiten der Ukraine und Russlands. Tatsächlich war es in Russland, um 1830, dass
Sonnenblumen erstmals landwirtschaftlich angebaut wurden. Vorher waren sie in
Europa nur als Zierpflanzen bekannt gewesen, nachdem die Spanier sie im 16.
Jahrhundert aus den trockenen Gebieten Nordamerikas – Arizona, New Mexico,
Nevada – mitgebracht hatten. Die Ureinwohner dort bauten die Sonnenblume schon
vor mindestens 3000 Jahren an und ergänzten damit ihren Speisezettel aus Bohnen,
Kürbis und Mais mit einem ölreichen Nahrungsmittel. Mit der Auslöschung
der indianischen Kulturen ging auch die Anbaukultur der Sonnenblume verloren. Erst
im 19. Jahrhundert kam sie über Russland wieder nach Nordamerika zurück. Russland,
die Ukraine und die USA sind heute noch die größten Anbauländer von
Sonnenblumen.
Im Blütenstand der Sonnenblume sind Hunderte kleiner Blüten
vereinigt, die Röhrenblüten; zusammen mit den äußeren gelben sterilen
Zungenblüten bilden sie eine große Schaublüte. So werden Bestäuber, vor allem Hummeln
angelockt. Solche Schaublüten sind bei Korbblütlern häufig – zum Beispiel bei
Edelweiß und Gänseblümchen, von denen im Eulenblick schon zu lesen war. Die Kerne reifen im Blütenstand
von innen nach außen; sie enthalten bis zu 50 % Öl.
Kerne reifen von innen nach außen |
Die Faszination der Sonnenblume resultiert, neben ihrer
Größe, aus ihrem Heliotropismus, also aus ihrer Fähigkeit, sich nach der Sonne
zu drehen. So fängt sie mehr Sonnenlicht ein und beschleunigt die Reifung
der Kerne. Doch hat die Sonnenblume noch weitere Tricks auf Lager, um die
Energie der Sonne anzuzapfen und so viele Kerne als möglich reifen zu lassen:
Folgt Fibonacci!
Welcher Regel folgt die Zahlenreihe 0 1 1 2 3 5 8 13 21 34 55 89?
Jedes Glied ist die Summe aus den beiden vorangegangenen
Zahlen. Leonardo Fibonacci (1170-1240) aus Pisa entdeckte dieses Gesetz, das
heute nach ihm benannt ist. Fibonacci-Zahlen findet man überall in der Natur,
in den Schuppen von Fichtenzapfen, in der Ananas, in den Blütenblättern der
Gänseblümchen – und in der doppelt spiralförmigen Anordnung der
Sonnenblumenkerne.
Zählt man die Spiralenreihen, in denen die Kerne heranreifen, kommt man immer auf bestimmte
Zahlen: 13, 21, 34, 55, 89. Spiralen, die nach links gehen, bestimmen die
Anzahl der rechtsdrehenden und umgekehrt: 34 linksdrehende stehen 55
rechtsdrehende gegenüber, 13 rechtsdrehende 21 linksdrehende. Sonnenblumenkerne
sind also auf geheimnisvolle Weise an Fibonaccireihen gefesselt.
Kluger Kopf: Leonardo Fibonacci |
Fibonacci gebietet: Gegenläufige Spiralen der Kerne |
Verhältnis 1:1,618 - der Goldene Schnitt |
Hier ein berechneter Blütenstand mit 1000 Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen** - oder umgekehrt: Samen, die im Goldenen Winkel zueinander stehen, bilden Fibonacci-Reihen. Capisc'?
Was für ein Blütenstand hier wohl gemeint ist? |
Dichte Packung, beste Ausnutzung des Raums – Goldener Winkel und Schnitt begegnen uns in den verschiedensten Naturphänomenen: in den Spiralen von Nautilusmuschel oder Wirbelstürmen, im Verhältnis von Körperlänge und Breite der Flügel von Schmetterlingen, ja sogar in der Doppelhelix der DNS in unseren Zellkernen.
Das Prinzip des Goldenen Schnitts ist den Genen der Organsimen eingeschrieben, fixiert durch die Evolution, die erfolgversprechende Mechanismen belohnt. Die Sonnenblume „weiß“ also durch die genetische Information in ihrer DNS, wie viele Kerne oder Einzelblüten sie in welchem Abstand und Winkel gegeneinander anordnen muss.Auf dem Zahlenverhältnis des Goldenen Schnitts baut sich die Ästhetik nicht nur der westlichen Kunst auf. Die Idealproportionen nach dem Goldenen Schnitt finden sich in den Bildern Leonardo da Vincis genauso wie in der Kuppel des Tadsch Mahal oder des Doms von Florenz, in den Tempeln der Akropolis wie in den Geigen Stradivaris. Und in den berühmen Sonnenblumen Van Goghs? Goldener Schnitt allüberall:
Es würde einen nicht wundern, wenn auch unser ästhetischer Geschmack in unseren Genen fixiert wäre.
*360 (1-f) wobei f dem Goldenen Schnitt entspricht
**http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/316888
Alle Fotos Wikimedia Commons**http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/316888