Donnerstag, 30. Juli 2015

Wilde Möhre


Juli 2015

Wilde Möhre

Daucus carota

Ähnlich wie weißblühende Sträucher (siehe Blogpost über die Traubenkirsche vom Mai 2015) ist die Unterscheidung der weißen Dolden- oder Schirmblütler für den zerstreuten Pflanzenfreund nicht einfach: Engelwurz, Giersch, Hundspetersilie, Kümmel, Kerbel, Schierling – sie schauen doch alle irgendwie gleich aus. Manch einer aus meiner Leserschaft rümpft vielleicht die Nase über diese Bekenntnisse eines Laien, doch ich weiß: Die Mehrheit fühlt sich verstanden.

An seiner Größe sollt ihr ihn erkennen und einen Bogen um ihn machen: Der giftige Riesen-Bärenklau, der in den letzten Jahren Schlagzeilen machte, ist leicht zu erkennen. Doch geht es uns heute um ein anderes, kleineres Mitglied aus dieser Verwandtschaft, die Wilde Möhre.
Sie hat ein Merkmal, das sie auf einen Blick unterscheidbar macht. Deshalb ist sie zu unserer Pflanze des Monats avanciert.


Man achte auf den Mittel-Punkt

Die Wilde Möhre stammt aus Europa und Asien; heute ist sie auch in Nordamerika weit verbreitet. Sie wächst an Wegrändern, Rainen, auf lockeren nährstoffarmen Böden. Schirmblütler haben schirm- oder halbkugelige Dolden; eine Dolde besteht aus 15 bis 30 Döldchen, die wiederum aus kleinen Einzelblüten bestehen. Im Zentrum der flachen weißen Dolde der Wilden Möhre sitzt eine (manchmal drei bis vier) sterile schwarzviolette Blüte. Auf den ersten Blick sehen diese Mittelblüten wie Fliegen aus – und das sollen sie auch: Richtige Fliegen werden angezogen und sie jagende Wespen. Auf dem Kampfplatz „Möhrendolde“ kann es hoch hergehen. Dabei wird Pollen zwischen den Blüten ausgetauscht. Flüchtende Fliegen und ihre Verfolgerwespen landen auch schon mal auf Dolden in der Nachbarschaft und laden dort fremden Pollen ab. Damit wird der wichtigste Zweck der Evolution erfüllt – der Austausch von Genen.



Wie viele Insekten?
 

Zwei schwarzviolette Mittelblüten
Die Funktion der schwarzen kleinen Blüten ist es also, Bestäuber anzulocken. Sie ist das Merkmal, an dem wir die Wilde Möhre auf den ersten Blick erkennen (und vor anderen damit angeben) können. Ein zweites Merkmal ist die vogelnestartig gekrümmte verblühte Dolde; zurzeit sieht man diese "Nester" überall an Straßen- und Wegrändern oder in Wiesen stehen.

Lauter Nester auf Stängeln am Wegrand

Die Wilde Möhre hat eine tiefe weiße Pfahlwurzel, die nach Karotte riecht, wenn man sie zerschneidet. Die Blätter sind gefiedert, ähnlich wie jene der Kulturmöhre.

 
Die Wilde Möhre ist zumindest ein Elternteil unserer Kulturmöhre, Karotte oder Gelben Rübe. Möhre sagt man eher im norddeutschen, Karotte im süddeutschen Raum. Doch gibt es Ausnahmen von dieser Regel: Tiroler sagen Karotte oder Gelbe Rübe; mein steirischer Mann ist nicht davon abzubringen „Möhren“ zu schneiden, sautieren und blanchieren.
 

Ein Geschenk der Stans

Die Wege der Wilden Möhre auf unsere Teller waren verschlungen. Historiker, Gärtner, Genetiker versuchten, ihre Geheimnisse zu ergründen. Wahrscheinlich entstand die Kulturpflanze Daucus carota sativa durch Kreuzung der „eigentlichen“ Wilden Möhre (der sogenannten Nominatform) mit der weißen südeuropäischen Unterart maximus und der schwarzvioletten asiatischen Unterart afghanicus. In Kleinasien, dem Überschneidungsgebiet der verschiedenen Formen, züchtete man Möhren in den verschiedensten Farben von weiß über gelb bis violett.

In Kleinasien und Innerasien domestizierte man Karotten schon vor vier- bis fünftausend Jahren. Die violette Möhre dort war in den „Stans“ verbreitet: in Turkmeni-, Kyrgysi-, Tadschiki-, Usbeki- und vor allem Afghanistan. Begehrt war zunächst nicht die Wurzel, sondern das Öl aus den Samen, das als Wurmkur und Heilmittel bei Bauchkrämpfen und Darmkrankheiten diente. Die Wurzel als Kohlehydratlieferant entstand erst im Lauf jahrhundertelanger Züchtung.

Die Möhre war also nicht Nahrungs-, sondern Heilpflanze. Dabei spielte natürlich der Kräuterglaube eine Rolle: Die schwarze Mittelblüte sollte bei Epilepsie helfen. Kulturmöhren weisen keine Mittelblüte mehr auf; Gläubige müssen sich weiter an die Wildform halten. Doch Vorsicht ist geboten: Die Wilde Möhre ist leicht mit anderen Doldenblütlern zu verwechseln; zum Beispiel mit dem Schierling, einer Pflanze, die „richtig“ giftig ist. Sokrates musste nicht an das Gift glauben, um daran zu sterben.

Welche Farbe erscheint vor Ihren Augen, wenn Sie Karotte hören? Junge Leute denken orange, sehen gerade, glatte Möhren vor sich, die heutige Norm-Supermarktkarotte. Bei älteren Semestern (zu denen die Bloggerin mittlerweile ja leider auch gehört) kommt vielleicht noch etwas gelb dazu, gemischt mit der Erinnerung an einen holzigen Biss und kleine weiße Seitenwurzeln.

Gelb, weiß und dunkelviolett war die Möhre seit der Antike, orange hingegen erst seit der Neuzeit. Die carotae Roms waren ziemlich blasse Früchte, weiß bis blassgelb. In antiken Schriften wurden Möhren und Pastinaken oft nicht unterschieden.


Wilde Möhre mit weißer Wurzel


Das wichtigste Dokument des Mittelalters zu Fragen der Pflanzenkultur (und zu vielen anderen) ist das Capitulare de Villis Karls des Großen. 812 in Aachen verfasst, spiegelt es die Wirtschaftsordnung des Fränkischen Reiches im Detail wider. In einem Kapitel sind 90 Pflanzen erwähnt, die in den Karlsgärten angebaut werden sollten; jede Pfalz und alle kaiserlichen Gutshöfe sollte so einen Garten haben. Die Pflanzenliste spiegelt die Traditionen der Antike und der Klöster des Mittelalters wider. Die Nr. 52 – caruitas – Karotte und Nr. 53 – pastenacas – Pastinake sind klar unterschieden.

Wortelen aus Hoorn 

Wie aber wurden gelbe Karotten orange? Im Mittelalter begann man allmählich, außer den Samen auch die Wurzel und deren Carotingehalt gezielt zu züchten. Wahrscheinlich wurde man sich der gesundheitlichen Bedeutung der gelben und orangen Farbstoffe langsam bewusst.

Im zweiten bedeutenden Herkunftsland der Karotte, Afghanistan, untersuchte und sammelte der russische Botaniker Nicolai Vavilov (geb. 1924) auf einer großen Expedition 5000 Sorten domestizierter Möhren. Er fand keine Sorte mit Carotin. Die dunkelvioletten afghanischen Karotten enthielten nur blaue Anthocyane; die Wurzel war Kohlenhydratlieferant.

Aus Beta-Carotin (Provitamin A) bildet der Körper sein Vitamin A. Es ist das Augen- und Hautvitamin und fördert die Knochenbildung bei Heranwachsenden. Mangel an Vitamin A kann Blindheit hervorrufen. Außer in gelben und orangen Früchten (Marillen, Pfirsichen, Reineclauden) kommt es auch in grünen Gemüsen vor, in Spinat oder Grünkohl. Dort ist das Carotin durch das Blattgrün verdeckt.

Genetische Untersuchungen zeigen, dass orange Möhren aus gelben domestizierten Varietäten hervorgegangen sind. Holländer können nicht nur Tulpen: Die moderne orange Karotte entstand in – sieh an – Oranje, in der Stadt Hoorn. 1610 waren orange Karotten, die Hoornse Wortelen, schon auf den Märkten von Amsterdam zu finden. Im 17. Jahrhundert tauchten sie auch in England auf. Erst ab dem Zwanzigsten Jahrhundert setzte sich die Hoornsche Karotte dann überall durch und verdrängte andere Varietäten. Gelbe Rüben waren und sind vor allem noch Futter für das Vieh.

Heute ist die Karotte weltweit das dritthäufigste Gemüse; 10 Millionen Tonnen werden jedes Jahr produziert.