Dienstag, 31. Oktober 2017

Riesenfenchel, Gemeines Rutenkraut, Gemeines Steckenkraut

Kein Geringerer als Plinius der Jüngere erweist uns heute die Ehre, die Pflanze des Monats vorzustellen: „Die Ferula heißt bei den Griechen Narthex, hat einen knotigen, auswendig festen, inwendig mit lockerem Mark gefüllten Stamm; die Blätter kommen aus den Knoten. Keine Pflanze gibt so leichte Stöcke; deswegen dienen diese alten Leuten als Stütze. …Gekocht und eingemacht ist die Pflanze essbar, auch dient sie als Arznei…. Prometheus soll die Kunst erfunden haben, Feuer in einer Ferula aufzubewahren.“ Zwei der vielen Namen dieser Pflanze - Ferula und Narthex - erwähnt Plinius hier schon; ihre deutschen Bezeichnungen  sind Riesenfenchel, Ruten-oder Steckenkraut, der wissenschaftliche Name Ferula communis. Mit einem Pinienzapfen gekrönt war sie ein Attribut Dionysos‘ und wurde Thyrsos genannt.


"Keine Pflanze gibt so leichte Stöcke..."

Auf Wiesen und Weiden, zwischen Tempeln und Ruinen war der Riesenfenchel auf unserer Kultur- und Wanderreise in Griechenland unübersehbar – eine Art Riesenkarotte, bis drei Meter hoch, jetzt im Herbst mit trockenen buschigen Dolden versehen, die ihre vielen Samen entließen und mit großen, vielfach gefiederten Blättern.

Seltene gelbe Doldenblüten

Der Riesenfenchel gehört wie andere Fenchelarten zu den Doldenblütlern, zum Beispiel Karotten oder Kümmel. Im Frühling sind seine Blüten leuchtend gelb; zum Unterschied von den anderen meist weißblühenden Doldenblütlern. Viele Doldenblütler sind wegen der ätherischen Öle, die sie enthalten, Heilpflanzen; viele, wie der gefährliche Riesenbärenklau, sind giftig. Auch der Schierling, der Sokrates den Tod brachte, war ein Doldenblütler.
Der Stängel des Riesenfenchels ist sehr dick, aber dünnwandig und mit einem porösen Mark gefüllt. Deshalb ist er sehr leicht, dabei aber stabil. Auf unseren Wanderungen in Griechenland bewährte sich das Steckenkraut als Wanderstab auf steinigen Pfaden, auf denen Spartaner und Mykener schon vor über 2000 Jahren vorübergezogen waren.

Carl von Linné, von dem im Eulenblick schon öfter die Rede war, schrieb über den Riesenfenchel: „Die Ruthen dieser Pflanzen sind sehr zäh, deren Mark wird, wenn es trocken wird, als Zunder gebraucht.“ Funktionieren kann das nur, weil das leicht entzündliche, schwammige Mark des Stängels sehr langsam und schwelend verbrennt, ohne die Rinde des Stängels völlig zu zerstören. Deshalb wurden die Narthex-Stängel in der Antike als Zunder beim Feuermachen verwendet oder um Glut in den Stängeln zu verwahren und zu transportieren. Manche griechischen Inselbewohner trugen noch im 20. Jahrhundert Feuer im Stängel von Ferula von einem Platz zum anderen.
Spenderin des Feuers, Bewahrerin der Glut, und das im antiken Griechenland – diese Pflanze hatte mythologisches Potential! Tatsächlich war der Stängel des Riesenfenchels ein unentbehrliches Requisit für die Großtat Prometheus‘, den Menschen das Feuer zu bringen.

Prometheus entstammte dem Göttergeschlecht der Titanen. Gegenüber Zeus ließ er es an Respekt ermangeln – bei einem Tieropfer überließ er Zeus die minderen Teile und verteilte die Bratenstücke an die Menschen, denn er war ein Menschenfreund. Daraufhin nahm Zeus den Sterblichen das Feuer weg, doch Prometheus entzündete am vorüberziehenden Sonnenwagen den Narthex und brachte die Glut zu den Menschen.

Lass dich nicht erwischen, Prometheus!
Das lässt sich Zeus nicht gefallen; er bringt den Rotzlöffel zur Raison, indem er ihn an einen Felsen im Kaukasus schmiedet. Ein Adler fliegt jeden Tag vorbei und frisst an seiner Leber, die sich tagtäglich erneuert. Deshalb ist Prometheus auch der Schutzpatron der Alkoholiker (ein blöder Witz, pardon). Herakles tötet schließlich den Adler, Zeus begnadigt Prometheus.
Prometheus, der Rebell, der Zeus herausfordert, hintergeht, verspottet und verhöhnt – war er nicht die ideale Identifikationsfigur für die Achtundsechziger des 18. Jahrhunderts, die Stürmer und Dränger, allen voran Herder, Goethe und Schiller? In ihren Werken beschworen sie den Sturz der Götter, die Auflehnung gegen Adel, Absolutismus und das verknöcherte Bürgertum. Genie, Kraft, Kerl waren ihre Schlüsselbegriffe. Goethes Prometheus, sein Werther, Schillers Räuber – Weicheier waren das keine.
Überhaupt: Goethe und der Rutenstab! Er soll einen solchen auf seinen Wanderungen auf Sizilien mit sich geführt und ihn nach seiner italienischen Reise 1788 in sein Haus nach Weimar mitgebracht haben, wo er sich heute noch befinden soll. Er war allerdings kein Freund eines Auftauchens des Narthex in Gedichten. In seinem berühmten Sturm-und-Drang Gedicht, dem Prometheus, ist letzterer als sich selbst ins Göttliche ermächtigendes, die Götter verspottendes Kraftgenie dargestellt, beneidet von den Göttern um die Glut seines Herdes. 

Wie die Glut in den Herd des Prometheus kam, führte Goethe nicht weiter aus, und er riet die Erwähnung des Narthex auch A.W.Schlegel gegenüber ab, der ebenfalls ein ellenlanges Prometheusgedicht verfasst hatte. Schlegel sollte keine trockenen mediterranen Stängel besingen, auch wenn sich in ihnen der Zunder befand, mit Hilfe dessen Prometheus das Feuer vom Himmel gestohlen hatte. Schlegel berichtet 1797 in einem Brief an Schiller von Goethes Tadel: „Ich habe jetzt eine Änderung versucht, wobey die Erwähnung des Sonnenwagens ganz wegbleibt, und die näheren Umstände des Entwendens etwas mehr ins Dunkel gerückt werden. Zugleich kommt auch dadurch das als Lunte dienende Rohr, der narthex oder Ferulastab der alten Fabel, den mir Göthe als gegen die Pracht des Sonnenwagens abstechend und kleinlich tadelte, weg.“
 
Der Stab des Riesenfenchels war auch dem größten Betrunkowitsch der Antike, dem Gott des Weines Dionysos und seinem Gefolge heilig, den wilden Satyrn und rasenden Mänaden. Bei ihren orgiastischen Festen und Umzügen wurden wilde Tiere zerrissen und aufgefressen, betrunkene Sterbliche und Unsterbliche paarten sich ungehemmt -  so wild ging es zu, dass keiner mehr sicher auf den Beinen war, und wäre er auch ein Gott gewesen. Der Thyrsos, wie der mit Pinienzapfen versehene Narthex hieß, bot den Schwankenden eine Stütze. So leicht, wie er war, konnte er auch bei Schlägereien keinen größeren Schaden anrichten. Nach dem Ausnüchtern waren Sterbliche und Unsterbliche wahrscheinlich gleichermaßen froh darüber.


Auf geht's zum nächsten Gelage! Dionysos und sein Thyrsos

In Mitteleuropa, in Friaul, kam der Riesenfenchel in einem alten Feldkult zum Einsatz. Der Historiker Carlo Ginzburg (geb. 1939) hatte in Archiven in Akten zu Inquisitionsprozessen aus dem 16. und 17. Jahrhundert von den Benandanti , den „Wohlfahrenden“ gelesen, die an vier Donnerstagen im Jahr nächtens auf Feldern kämpften, um die Ernte gegen Hexen und böse Geister zu verteidigen. Diese Benandanti waren Nachkommen von Schamanen; sie waren bei der Geburt mit einer Glückshaube, einem Rest der Eihaut, also der Fruchtblase, bedeckt. In vielen Kulturen galten solche Kinder als besonders, als Glücksbringer und vom Glück Ausersehene. In der Literatur trugenTill Eulenspiegel und David Copperfield solche Glückshauben, in der Historie zum Beispiel Karl der Große, Napoleon oder Sigmund Freud. Die Benandanti, gute Wesen und Verteidiger der Fruchtbarkeit, vertrieben die bösen Geister mit ihrer Waffe, dem Stängel des Riesenfenchels! Obwohl sie gegen Hexen kämpften, gerieten sie bald selbst in das Blickfeld der Inquisitoren. Carlo Ginzburg: „Die überlieferten Prozesse gaben in meinen Augen sehr klar zu erkennen, dass die Menschen, die ursprünglich gegen die Hexen gekämpft hatten, am Ende selbst zu Hexen geworden waren."
In Sizilien gibt es noch Imker, die Bienenbeuten aus dem Narthex-Stängel bauen. Eine Reminiszenz an die glorreichen Zeiten der Magna Graecia?
 



Bienenhaus und Bienenbeuten aus dem Stängel der Ferula in Sizilien

Und vielleicht überlegt sich mancher Leser schon die ganze Zeit, wie der Goethesche Prometheus wieder ging? Bitte sehr, hier ist er:
Prometheus

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh'n!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen steh'n,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn' als euch Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus, wo ein,
Kehrt' ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Ein Ohr zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest, jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden dadroben?
 
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen-
Blütenträume reiften?

Hier sitz' ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

Bilder:
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