Freitag, 30. Juni 2017

Silberwurz


Großer Name, große Geschichte: Die Silberwurz, Dryas octopetala, hat einem ganzen geologischen Zeitabschnitt den Namen gegeben, dem letzten Abschnitt der letzten Eiszeit - in den Alpen Würm-, in Mittel- und Nordeuropa Weichseleiszeit genannt. Der Name Dryas selbst stammt von der Baumnymphe Dryas aus der griechischen Mythologie.

Über 100.000 Jahre lang war es kalt gewesen, sehr kalt: Eisschilde bedeckten große Teile Eurasiens und Nordamerikas, Wälder gab es nur ganz im Süden, riesige Tundren säumten die Gletscherränder. Dann, vor 14.000 Jahren, wurde es milder, Gletscher schmolzen ab, zogen sich zurück, Wälder begannen, sich nach Norden auszubreiten. Das Ende der Eiszeit - war es gekommen?

Vor etwa 12.700 Jahren kam der Rückschlag. Plötzlich wurde es wieder sehr kalt, Gebirgsgletscher wuchsen, in Skandinavien verschwanden die Nadelwälder, Tundren breiteten sich aus. "Plötzlich" ist hier durchaus wörtlich zu verstehen - der Umschwung geschah innerhalb von ein bis zwei Jahrzehnten. Die typische Pflanze hier, ganze Landschaften dominierend, war die Silberwurz. Nach ihr benannte man die ganze Periode - die Dryas-Kaltzeit. Über die Ursachen für den Klimaumschwung streiten die Wissenschaftler; am wahrscheinlichsten ist, dass auf dem Nordamerikanischen Kontinent riesige, mit dem Schmelzwasser der tauenden Gletscher gefüllte Seen ausbrachen, sich in den Atlantik ergossen und den Golfstrom zum Erliegen brachten. Dieses Ereignis ist nach dem Geologen Louis Agassiz (1807-1873) benannt, einem Geologen, der die Theorie der Eiszeiten als erster formuliert hatte.

Die Dryas-Kaltzeit ging vor 10.000 Jahren zu Ende. Es begann das Holozän, die letzte, bis heute andauernde Zwischeneiszeit.

Pflanze der subarktischen Tundren

Die Silberwurz kommt auch heute noch in den Tundren des Hohen Nordens vor, in Skandinavien, Sibirien oder Island. Wir Alpenbewohner kennen sie vor allem als Pflanze des Hochgebirges, als ein Eiszeitrelikt, das sich, als das Klima immer wärmer wurde, in große Höhen zurückzog (bis 2500 m), wo sie das ihr behagende subarktische Klima vorfindet.

Pionierpflanze und Kalkzeiger - diese beiden Eigenschaften gehören noch zur Stellenbeschreibung der Silberwurz. Sie kommt nur auf kalkhaltigem Gestein vor; sie ist eine sogenannte Zeigerpflanze für Kalk im Boden. In den Alpen findet man sie vor allem auf Karen, den Schutthalden am Fuß der Dolomitenwände. Dort tritt sie als Pionierpflanze auf, was bedeutet, dass sie nackte Böden besiedelt. 

Die Silberwurz ist ein niederliegender immergrüner Zwergstrauch; aus Knospen auf ihren verholzten Zweigen wachsen die gezähnten Blätter mit der namengebenden silberhaarigen Unterseite. Die Silberhaare an der Unterseite der Blätter sind eine Anpassung an das raue Klima: Der Silberschimmer reflektiert die starke Sonnenstrahlung des Hochgebirges; die Haare halten eine windstille Luftschicht über dem Blatt und bewahren es vor Austrocknung durch den Wind. Die Silberwurz wächst zu flachen Matten aus, die sich auf dem Schutt ausbreiten. Diese Matten werden bis zu 100 Jahre alt; an manchen Stellen sterben sie ab, wachsen an anderen weiter.

Pionierpflanze und Kalkzeiger: Matten der Silberwurz auf Kalkschutt


An einem Ende sterben sie ab, am anderen wachsen sie weiter
Zwischen den Blättern leuchten die weißen Blüten hervor, mit den 8 (7-9) ebenfalls namengebenden Kronblättern. Octopetala bedeutet ja "mit acht Petalen", also acht Kronblättern. Die verblühte Silberwurz trägt einen langen haarigen Schopf - jeder "Haar" trägt an seinem unteren Ende einen Samen. Die Verbreitung der Samen übernimmt der Wind.

Mit acht Kronblättern: Silberwurz


Fliegt, Samen, fliegt
 
In den Hochlagen der Gebirge findet man viele niederliegende Sträucher und Polsterpflanzen, die sie an den Boden schmiegen - eine Anpassung an das Klima des Hochgebirges; die Pflanzen ducken sich unter dem Wind und bleiben auch länger unter der Schneedecke geborgen. Auf "reifen" Matten der Silberwurz siedeln sich bald andere Pflanzen an. Zwischen den Blättern und Zweigen sammeln sich feuchte Lehm- und feine Sandteilchen, in denen es sich gut keimen lässt. Die Wurzeln unter den Matten befestigen die rutschenden Kare; im untersten Teil der Hänge, der zur Ruhe gekommen ist, verschwindet die Silberwurz immer mehr, andere Pflanzen überwuchern die Matten.


Bereitet den Boden für andere: hier Alpen-Wundklee

Fotos:
Angelika Schneider 3
Michael Haferkamp 2002
Velela
Hansueli Krapf