Samstag, 12. November 2011

Edelkastanie

Edelkastanie
Castanea sativa


Auf zum Törggelen

Durch die Fußgängerzonen zieht jetzt wieder der rauchige Duft der Maronibratereien. Die gebratenen Kastanien, kross, süß und sättigend, gehören zum Besten, was der Herbst zu bieten hat. In Südtirol kosten die Leute beim Törggelen die Köschtn und den neuen Wein. Die Nomenklatur der Kastanien ist etwas verwirrend: In Südtirol heißen sie Köschtn; Maroni oder Maronen in Deutschland und Österreich. In Italien sind geröstete Kastanien die caldarroste. Castagne sind die wilden Früchte aus dem Kastanienwald, die marroni kommen aus dem marroneto, dem Kastanienhain, in dem die veredelten Kastanienriesen stehen. Doch dazu weiter unten mehr. Mit der Rosskastanie, dem Baum der bayerischen Biergärten, ist die Edelkastanie nicht verwandt. Nur die Kastanienigel ähneln sich oberflächlich.
Die Kastanien sind die Früchte der Edelkastanie, Castanea sativa. Dieser Baum ist eine seit Jahrtausenden vom Menschen genutzte Kulturpflanze. Sein natürliches Verbreitungsgebiet ist kaum noch feststellbar. Wahrscheinlich kommt die Edelkastanie ursprünglich aus Südeuropa und Kleinasien. Das Anbaugebiet geht von Westeuropa und England über Deutschland bis nach Südrussland. In Deutschland gibt es Keschten im Pfälzer Wald (Haardt), im Rheintal und im Taunus, also in wärmeren Gegenden, denn die Edelkastanie will ein gemäßigtes Klima. Nicht zu trocken und nicht zu nass soll es sein, Spätfröste und Dürre nimmt sie ebenfalls übel.
Nur oberflächlich der Rosskastanie ähnlich
Besonders weit verbreitet war die Kastanie in den tieferen Lagen der Westalpen (Savoyen, Piemont, Lombardei) und den mittleren Lagen des Apennin (Toskana, Ligurien, Kalabrien, Kampanien). Sie steigt von 1000 Meter im nördlichen Apennin bis auf 1500 Meter in Sizilien. In Südtirol finden wir sie bis auf etwa 800 Meter.

Die Edelkastanie ist ein sehr langlebiger Baum; sie kann 400 bis 500 Jahre alt werden. Die majestätischen Kastanien der Marroneti nehmen oft riesige Ausmaße an mit Durchmessern von sechs bis 8 Metern.
Die Blätter der Edelkastanie sind groß, 15 bis 25 cm lang, spatelförmig und gezähnt. Die Blüte erfolgt sehr spät im Juni. Dann leuchten die weißlichen, bis 20 cm langen männlichen Blütenkätzchen aus den Kronen. Aus dem Pollen entsteht der kräftig-herbe Kastanienhonig. Es gibt rein männliche Blütenkätzchen und Zwitterblüten, wo an der Basis der Kätzchen die kleinen weiblichen Blüten sitzen, aus denen bis zum Herbst die stacheligen Früchte heranreifen.
Schon in der Antike wurde die Edelkastanie vom Menschen genutzt und angepflanzt. Die Griechen brachten sie nach Süditalien, in die Magna Graecia. Nach England kam sie mit den römischen Legionären, die Kastanien als staple food mit sich führten. Seit dem Mittelalter ist die Verbreitung der Kastanie durch die Benediktiner bekannt.
In der langen Zeit der Nutzung durch den Menschen entwickelte sich eine Reihe von hochdifferenzierten Kulturtechniken rund um den Anbau und die Verarbeitung der Edelkastanien. Der Baum tritt uns im Kastanienwald entgegen, der vor allem der Holzgewinnung dient und im Kastanienhain, aus dem die Maroni kommen.
Mathilde von Canossa, weise Förderin der Edelkastanie
Brotbaum der Bergbewohner
Im Mittelalter erfuhr die Edelkastanie eine große Ausdehnung ihres Anbaugebietes. Die Bevölkerung wuchs; die Siedlungen dehnten sich bis in die Berge aus. Hier, im kühlen Klima, reifte das Getreide nicht mehr, die Menschen gewannen ihr Mehl aus der Kastanie. Das Kastanienmehl, zu Polenta verkocht, war das Grundnahrungsmittel. Die Kastanien stammten aus dem Marroneto, dem Kastanienhain, in dem riesige Kastanien in regelmäßigen Abständen stehen. Dazwischen weideten Schafe; sie hielten das Gras kurz und bewahrten den Hain vor Bränden. Die Bauern bewirtschafteten den Marroneto wie einen Garten – sie beschnitten die Kronen der Kastanien, entfernten tote Äste, entbuschten und entsteinten die Flächen. Die Blätter der Bäume dienten als Einstreu im Stall und als - nicht sehr hochwertiges - Futter. Die Verteilung der Bäume auf der Fläche unterliegt Regeln, die seit fast 1000 Jahren gelten. In Italien heißt der Pflanzabstand matildico, nach der großen Mathilde von Canossa (1046 – 1115), der Markgräfin von Tuszien (Toskana) und der Emilia – Romagna, die als Vermittlerin im Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser, der 1076 im „Gang nach Canossa“ Heinrichs IVendete, in die Geschichte einging. Doch Mathilde trieb auch die Kolonisierung der Berge in ihrer Markgrafschaft voran. Im mathildischen Kastanienhain stehen die Kastanienbäume in Abständen von ca. 10 Meter zueinander. So frei stehend, können die Kastanien ihre riesigen Kronen ausbreiten und viele Kastanien produzieren.
Ein mathildischer Kastanienhain

San Michele – una cria nel paniere
An Michaeli eine Kastanie im Brotkorb
Das Hauptprodukt der Kastanienhaine war das Kastanienmehl. Jede bäuerliche Familie hatten ihre Anbaufläche; alle Mitglieder arbeiteten bei der Ernte mit. Stichtag für den Beginn der Ernte war das Fest des Erzengel Michael am 29. September. Die Früchte wurden entweder vom Boden aufgelesen oder mit Stangen von den Bäumen geschlagen.
In den Kastanienhainen Italiens oder in den Dörfern stehen oft die alten metati, die Dörröfen, in denen die Kastanien getrocknet wurden. Durch eine Luke warf man eine Schicht frischer Kastanien von 10 – 20 cm Höhe  auf leicht auseinanderliegende Holzstangen. Darunter brannte einen Monat lang Tag und Nacht ein niedriges Feuer aus Kastanienholz, das die Kastanien trocknete. Zum Schälen kamen die Kastanien in große Körbe; die Leute zerstampften sie mit Nagelbrettern, die sie an den Füßen trugen. Der Metato wurde Tag und Nacht bewacht, um Brände und Diebstahl zu verhindern. Diese Zeit war ein Fest für die Menschen: um das Feuer wurde die veglia, die Nachtwache gehalten, man aß Kastanien, trank Wein  und erzählte die alten Sagen und Geschichten aus den Bergen. Die getrockneten Kastanien wurden in der Mühle zu Mehl vermahlen. 100 kg getrocknete Kastanien ergaben 90 kg Mehl.

Zeuge der alten Kastanienkultur: der Metato
Es gibt sehr viele Sorten von Kastanien. Die wichtigste Unterschiedung ist jene zwischen Mehl- und Röstkastanien, den Marroni. Letztere weisen einen höheren Eiweißgehalt auf; aus ihnen gewonnenes Mehl würde schnell verderben. Kastanienhaine, die Marroni produzieren, stehen vor allem in der Nähe der Städte, in die die Marroni geliefert werden.
In meinem alten Botanikbuch sind Mehlkastanien und Marroni so unterschieden:
Marroni – 1-2 Früchte pro Igel, das Häutchen ist dünn, faltet sich nicht ins Innere der Frucht; leicht schälbar;
Kastanien 2-4 Früchte pro Igel, dunklere Schale und ein Häutchen, das sich in die Frucht hineinfaltet; schwer schälbar.

Stöcke schlagen aus
Laubbäume haben die Fähigkeit, sich nicht nur aus dem Samen zu erneuern, sondern auch aus sogenannten Stockausschlägen: Wenn ein Baum gefällt wird, treiben aus ruhenden Knospen in seiner Rinde aus dem Baumstrunk neue Triebe aus. Ein solcher Wald wird Niederwald genannt. Im Mittelmeerraum und am Balkan hatten Niederwälder vor allem eine sehr große Bedeutung als Brennholzlieferanten. In Mittel- und Nordeuropa kam das Brennholz hauptsächlich von Nadelbäumen wie der Fichte. In Deutschland gab es Buchenniederwälder vor allem in der Nähe von Hüttenwerken und Glashütten. In Niederwäldern wurde aber auch Bau- und Werkholz für die verschiedensten Zwecke gewonnen.

Riesiger Kastanienstock mit Stockausschlägen
Auch Kastanienwälder sind meist Niederwälder. Dort ist der Mensch nicht an den Früchten interessiert, sondern am Holz. Ein Niederwald kann in relativ kurzen Abstanden, zwischen 10 und 25 Jahren etwa, immer wieder genutzt, „auf den Stock gesetzt“ werden. Kastanienwälder wurden typischerweise im 7jährigem Abstand eingeschlagen, zur Gewinnung von Pfählen für den Weinbau. Mit der Zeit bildeten sich riesige, innen hohle Kastaniestöcke, an deren Rändern die neuen Stockausschläge wuchsen. Heute stützen Betonsäulen die Reben, Kastaniewälder werden seltener genutzt, manchmal nur noch alle 50 Jahre.
Produkte aus dem Kastanienniederwald
Kastanie am Ende?
Um die Mitte des letzten Jahrhundert hatte ein scheinbar unaufhaltsamer Niedergang der Edelkastanie eingesetzt. 1938 landeten im Hafen von Neapel Munitionskisten aus Kastanienholz aus den USA. Das Holz war mit einem Pilz infiziert, dem Kastanienrindenkrebs Endothia parasitica. Der Krebs stammte ursprünglich aus China und hatte im Osten der USA, in den Appalachen, den dortigen Chestnut Tree ausgerottet. Der Kastanienrindenkrebs begann in allen europäischen Kastanienwäldern zu wüten. Gleichzeitig setzten Industrialisierung und Landflucht ein, Haine und Wälder wurden vernachlässigt, ihre Pflege hörte auf. Die mehrtausendjährige Kastanienkultur schien verloren. Heute breitet sich unter Experten wieder vorsichtiger Optimismus aus: Kastanienwälder entwickeln widerstandsfähige Stockausschläge, bilden unter der Rinde eine schützende Korkschicht gegen das Pilzgewebe aus. Auch die Pflege alter Marroneti und die Anlage neuer nimmt zu: es gibt einen guten Markt für hochwertige Marroni in ganz Europa. Aus dem Mugello nördlich von Florenz kommt z.B. die von der EU geförderte eingetragene Marke Marrone del Mugello I.G.P. Wer Kastanien isst, trägt bei zum Erhalt und zur Pflege der Kastanienhaine mit ihren Jahrhunderte alten Baumriesen. In diesem Sinne: auf zum Törggelen!
Ein gefährlicher Parasit: der Kastanienrindenkrebs


1 Kommentar:

  1. Wirklich ein sehr interessanter Blog, der Eulenblick! Die Beiträge der Monate Oktober und November haben mir besonders gut gefallen.
    Vor Jahren habe ich im Frühlingstal einen kleinen Kastanienbaum ausgegraben und ihn im Garten in Flains in die Hecke gepflanzt - ich dachte, vielleicht gedeiht er ja als Strauch. Inzwischen ist er ein ziemlich hoher Baum geworden, der heuer erstmals Kastanien getragen hat. Wahrscheinlich der nördlichste Kastanienbaum Südtirols und noch dazu auf 1000 m... Herzlichen Gruß, Reinhard

    AntwortenLöschen